
Audienz beim Papst
Hatte Karmapa während der gesamten Reise bereits Vertreter des Klerus – darunter den Bischof von Stockholm und jenen der unweit von Kagyu Ling gelegenen Stadt Autun – getroffen, stand nun ein interreligiöses Treffen von weit größerer Bedeutung auf dem Programm: Rigpe Dordje flog nach Rom, wo eine Audienz beim Papst anberaumt war, an dem auch Namkhai Norbu Rinpoche, der in Rom an der Universität unterrichtete, teilnahm. Papst Paul VI., bekannt für sein Interesse am interreligiösen Dialog, empfing Karmapa mit einer bewegenden Rede:
"Eure Heiligkeit,
wir sind glücklich, dass wir Sie im Apostolischen Tempel willkommen heißen können und dass Sie den Wunsch geäußert haben, uns zu treffen. Wir alle sind Freunde von Menschen mit gutem Willen und besonders von jenen, die wie Sie sowohl spirituelle als auch moralische Werte der Menschheit fördern.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat seine ehrliche Bewunderung für den Buddhismus in seinen verschiedenen Ausprägungen und den Beitrag, den er für die Weiterentwicklung der Menschheit geleistet hat, bekundet. Wir haben ein Sekretariat für die Förderung des Dialogs mit nicht-christlichen Religionen eingerichtet. Wir schätzen uns glücklich, dass überall auf der Welt unsere Söhne und Töchter der Katholischen Kirche sich immer mehr einer freundschaftlichen Zusammenarbeit mit diesen öffnen, um Frieden sowie spirituelle und moralische Werte zu fördern. Jeder moralische und religiöse Fortschritt ist ein Beitrag zum Weltfrieden.
Wir wünschen Ihrer Heiligkeit einen sehr freudigen Aufenthalt in Rom und einen zutiefst erfüllenden Besuch im Petersdom, den in diesem heiligen Jahr so viele Pilger aus der ganzen Welt besuchen. Wir alle sind Pilger zum Absoluten und Ewigen, denn einzig dieses kann das Herz der Menschen wirklich erfüllen. Möge unser Zusammentreffen heute zum Frieden in Ihrem Land beitragen.
Auch wünschen wir Ihrer Heiligkeit und all Ihren Gläubigen Wohlstand und Frieden in Fülle."
(Ergänzung Januar 2025: Wie wir auf der Website von Dhagpo Kagyu Ling erfahren, hatte der Vorsitzende des Büros für interreligiösen Dialog, Erzbischof Sergio Pignedoli, den 16. Karmapa auf Einladung des Chögyals von Sikkim getroffen und ihm dabei angeboten, ein Treffen mit dem Papst zu ermöglichen. Pignedoli war bei dem Treffen im Vatikan ebenfalls anwesend.“)
Bei seinem Besuch im Petersdom, interessierte sich Karmapa u.a. für die Strukturen des Marmorbodens – was nicht sonderlich verwunderlich ist, denn ihre Form gleicht frappierend jener der tibetischen Mandalas.
Der Besuch beim Papst fand selbst internationale Beachtung – und so konnte man am darauf folgenden Tag in der New York Times lesen:
"Papst Paul VI., der mit ‚Eure Heiligkeit‘ angesprochen wird, begrüßte gestern mit ebendieser Anrede ein tibetisches Oberhaupt, den Lama Gyalwa Karmapa, der in Begleitung anderer buddhistischer Mönche den Vatikan besuchte.“[1]
Vor seinem Rückflug nach Frankreich blieb noch etwas Zeit für einen Besuch der italienischen Hauptstadt, wo auch eine kleine Shopping-Tour arangiert worden war, die Rigpe Dordje auf seine Art zum Wohle der Wesen nutzte. Erwan Temple:
"Eine Dame namens Laura Albini lud Karmapa und seine Begleiter in ein wirklich erstklassiges römisches Schuhgeschäft ein. Karmapa setzte sich auf eines der luxuriösen Sofas. Es war ein riesiger, hoher Raum mit Regalen aus edlem Holz, in denen die Schuhe lagerten. Man führte Karmapa einige Modelle vor, die er allerdings ablehnte. Stattdessen ließ er sich andere Kartons geben. Karmapa öffnete sie, berührte die Schuhe, manchmal hauchte er auf sie und gab sie dann zurück. Dies machte er mit einer stattlichen Anzahl, bevor er endlich ein Paar auswählte. Erst später verstanden wir, dass er sich die Schuhe bringen ließ, um mit den Tieren, aus deren Haut die Schuhe gefertigt waren, eine Verbindung herzustellen.
Anschließend überraschte uns Karmapa, indem er sich zu Fuß auf den Weg machte. Obwohl er das erste Mal in Rom war, führte er uns, bog schließlich in kleines Sträßchen ein und ging in ein Vogelgeschäft! Ich weiß nicht mehr, wie viele Vögel er genau kaufte. Für uns war natürlich äußerst rätselhaft, wie er den Laden hatte finden können, es war, als hätte er ein GPS im Kopf!"[2]
Auszug aus Strahlendes Mitgefühl
(c) Gerd Bausch 2016.
[1] New York Times, 18.1.1975. Eine ähnliche Associated Press Meldung wurde selbst in kleinen Provinzzeitungen abgedruckt.
[2] Interview mit Erwan Temple, Les Eyzies, 2013.