Aus Anlass des 40. Jahrestags des Parinirvana des 16. Gyalwa Karmapa das entsprechende Kapitel aus Strahlendes Mitgefühl.
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Spiel zwischen Leben und Tod
In einem solch prekären Gesundheitszustand ist ein normaler Linienflug ausgesprochen kräfteraubend. Da Dr. Kotwal, der als einziger wusste, wie hoch man das Insulin für Karmapa dosieren musste, auf sein Visum wartete und in einer späteren Maschine nachreiste, gab man Yishin Norbu eine unzureichende Dosis des Medikaments, und so kam er am 20. Oktober 1981 erschöpft, überzuckert und dehydriert in der etwa eine Fahrstunde von Chicago[1] entfernt gelegenen American International Clinic in Zion an.
Schon die ersten Untersuchungen im Krebskrankenhaus bestätigten, dass Karmapa Metastasen in den Knochen hatte. Dr. Levy: „Aus medizinischer Sicht musste er unglaubliche Schmerzen haben, was er allerdings abstritt.“ Stattdessen blieb er „entspannt, heiter, voll inneren Friedens und ruhig“, etwas, womit er Ärzte wie Pflegepersonal während des gesamten Aufenthalts auf der Intensivstation verblüffte.[2]
Bei Diabetes-Patienten sind die Nieren oft geschwächt, und so hatte die unzureichende Versorgung mit Insulin auch hier zu einer Nierenschädigung geführt. Dem wirkte man entgegen, indem man Yishin Norbu an die Dialyse anschloss.[3] Doch kaum hatten sich seine Nieren dadurch erholt, bekam er eine bakterielle Lungenentzündung und zeigte Anzeichen einer Blutvergiftung, die tödlich auszugehen drohte.
Die Ärzte kamen überein, dass Karmapa eines Blutplasma-Austausches bedürfe. Gerade war dafür ein Plasmapheresegerät entwickelt worden, und von diesem gab es im ganzen Bundesstaat Illinois erst ein einziges Exemplar. Es wurde ins Krankenhaus gebracht. Sogar der Entwickler des Apparats wurde informiert und erklärte, umgehend nach Zion kommen zu wollen. Wieder einmal fügte sich kraft Yishin Norbus spirituellen Einflusses in seiner „Tendrel“-Welt eines zum anderen, denn eigentlich lehnte der besagte Entwickler die alternativen Heilmethoden dieser Klinik ab, und hatte sich in der Vergangenheit sogar dafür eingesetzt, dass sie geschlossen würde.
Während des Plasmaaustausches bekam Karmapa Atemnot. Die Situation spitzte sich dramatisch zu, und er hatte Bläschen vor dem Mund. Die Rinpoches waren außer sich. Doch Karmapa brach nur in sein für ihn so typisches ansteckendes Lachen aus, was alle anderen wieder beruhigte. Ein anderes Mal fiel das Plasmapheresegerät aus. Die Techniker wussten nicht, warum, und waren ratlos. Nach einer halben Stunde begann der Apparat von alleine wieder zu laufen – Seine Heiligkeit lächelte schelmisch.
Die Kraft von Karmapas Meditation bekamen selbst recht Unbeteiligte zu spüren, wie einer dieser Techniker, der einmal aus seinem Zimmer kam und von seltsamen Wärmewallungen berichtete, die seinen gesamten Körper erfasst hätten. Als die Kollegen ihm nicht recht glauben wollten und auch zu Karmapa gingen, erlebten sie dies allerdings am eigenen Leib.[4]
Die enorme Kraft von Karmapas Geist
Mehr als einmal während seines kurzen Aufenthalts in Zion war Yishin Norbu dem Tode nahe. Doch jedes Mal, wenn sich die Ärzte sicher waren, dass Karmapas 16. Inkarnation sein Ende fände, sagte er, dass sie sich irrten und überraschte sie mit neuer Lebenskraft.[5] Die Frage, ob er Schmerzen habe, wurde zu einem Running Gag, denn jedes Mal beantwortete er sie mit seinem ausgesprochen gütigen Lächeln und einem klaren „Nein“. Dementsprechend lehnte er es grundsätzlich ab, Schmerzmittel einzunehmen.
Schließlich bekam Karmapa ein akutes Lungenödem, bei dem sich seine Lungen mit Flüssigkeit anfüllten. Um diese lebensbedrohliche Situation abzuwenden, musste man ihm Sauerstoff zuführen. Da das Einführen der hierfür notwendigen Schläuche jedoch ausgesprochen schmerzhaft ist, spritzte man Yishin Norbu – obwohl er dies ja eigentlich nicht wollte – Morphium. Patrick Wooldridge:
Ganz anders als bei anderen Menschen, die die gleiche Behandlung bekommen, wurden genau im Moment, als wir es ihm spritzten, seine vitalen Funktionen sehr schwach. Man musste sofort ein anderes Medikament geben, um die Wirkung des ersten zu neutralisieren, worauf sich seine Vitalfunktionen umgehend wieder verbesserten.
Es war also, so Dr. Levy, „die Willenskraft Seiner Heiligkeit, die ihn am Leben hielt“, und da diese durch das Schmerzmittel geschwächt worden war, brachen seine Vitalfunktionen zusammen.[6] „F ür mich als Arzt“, so Dr. Levy weiter, „war dies eine Lehrstunde, was die Kraft des Willens alles bewirken kann.“[7]
Yishin Norbu transzendierte, was im Allgemeinen als medizinische Wahrheit gilt. Während ein Krebsleiden normalerweise einem bestimmten Krankheitsverlauf folgt und man anhand bestimmter Symptome erkennen kann, wann das Ende naht, war das bei Karmapa völlig anders. Dr. Levy:
An einem Tag (dem 28. Oktober) stellten wir bei einer Untersuchung fest, dass sich sein Zustand drastisch verschlechtert hatte. Ich kam aus seinem Zimmer und verkündete: „Seine Heiligkeit hat noch zwei Stunden zu leben, vielleicht auch drei!“ Er wies alle Symptome auf, die in diesem späten Stadium der Krankheit normalerweise auftreten, und es ging wirklich rapide abwärts. Die Organe setzten aus, das Atmen fiel ihm schwer, er stieß Blut auf, hustete Blut, und sein Blutdruck sank, obwohl wir ihm dagegen Medikamente gaben.[8]
Da der Tod unmittelbar bevorzustehen schien, rief man die Tulkus, „denen Karmapa allerdings versicherte, er habe nicht vor, an diesem Tag zu sterben“. Bereits fünf Minuten später saß er wieder aufrecht mit weit offenen Augen da. Innerhalb einer weiteren halben Stunde „war seine Lebenskraft zurückgekommen“, so Dr. Levy. „Er redete, lachte. Vom medizinischen Standpunkt aus ist dies eigentlich unmöglich. Die Schwestern waren alle bleich, eine von ihnen zeigte mir ihren Arm: Sie hatte eine Gänsehaut!“[9]
Ohne ersichtlichen äußeren Grund hatte sich also sein Gesundheitszustand von einem auf den anderen Augenblick wieder verbessert, was auch die Monitore, mit denen man seine Vitalfunktionen überprüfte, anzeigten. Dr. Levy:
Es war fast, als hätte jemand die Messgeräte herausgezogen, sie irgendwie manipuliert und dann wieder angeschlossen – denn plötzlich bestätigten sie, dass alles wieder in Ordnung war: Der Blutdruck war ausgeglichen. Auch die Blutungen hörten auf. All das lag jedoch nicht etwa daran, dass wir Karmapa Medikamente gegeben hätten, nein, er selbst war es, der den ganzen Abwärtstrend einfach umkehrte.
Niemand von uns hat in seinem Leben je etwas Vergleichbares erlebt. Die Kraft seines Willens war enorm, und für ihn war es noch nicht an der Zeit zu sterben. Ich bin vollkommen überzeugt, dass er sich in Krisen kraft seines Willens wieder in einen stabilen Zustand zurückversetzte. Ich habe noch nie etwas gesehen, was auch nur annähernd damit vergleichbar wäre – ich habe nicht einmal davon gelesen oder gehört! Trungpa Rinpoche kommentierte dies später mit den Worten: „Jetzt siehst du, was alles möglich ist!“[10]
Einige Tage darauf ging es ihm dennoch erneut deutlich schlechter. Wieder waren sich die Ärzte sicher, dass er nur noch kurz zu leben habe. Shamar Rinpoche erinnert sich:
Dr. Levy ließ uns wissen, dass, wollten wir mit ihm gemäß der Tradition über seine nächste Wiedergeburt sprechen, es jetzt an der Zeit wäre. Nachdem wir diese entscheidenden Neuigkeiten gehört hatten, hielten die versammelten Lamas ein spontanes Treffen ab und berieten, wie wir dies am geschicktesten tun sollten. Neben mir nahmen Situ, Djamgön, Topga, Trungpa und Karma Thinley Rinpoche, der gerade angekommen war, an dem Treffen teil. (…) Am Nachmittag gingen alle anwesenden Rinpoches in Karmapas Raum. Man hatte beschlossen, dass ich ihr Sprecher sein sollte, und so bat ich Karmapa, sich zu den Umständen seiner nächsten Inkarnation zu äußern. Karmapa war außerstande, mehr als ein obendrein unverständliches Wort dazu zu sagen, und konnte unserem Wunsch nicht nachkommen![11]
Und dennoch ging es ihm auch diesmal bald darauf besser. Er blieb für einige Tage vollkommen stabil. Da er immer häufiger Schwierigkeiten hatte zu sprechen, brachte man ihm in dieser Zeit jeden Morgen das Order Book, in dem er seine Wünsche aufschreiben konnte, was er spielerisch tat – ein Spiel, das jedoch bisweilen von dramatischen Vorfällen unterbrochen wurde, wie etwa einer disseminierten intravasalen Koagulopathie, die die Ärzte am 2. November in Alarmbereitschaft versetzte: Seine Blutgerinnung hatte derart nachgelassen, dass er aufgrund seiner Blutvergiftung heftige innere Blutungen bekam. Es war – wieder einmal – lebensbedrohlich. Doch innerhalb von zwei Stunden hörten diese Blutungen gänzlich auf und seine Werte normalisierten sich. Yishin Norbu setzte sich im Bett auf, um sich mit den Leuten so zu unterhalten, als sei nichts geschehen. Dies war die Art, wie Karmapa die Mediziner und das Pflegepersonal immer wieder in ungläubiges Erstaunen versetzte. Und je schwieriger seine Lage war, umso mehr verblüffte Karmapa das Personal mit seiner Herzlichkeit und seiner unbegrenzten Sorge um die anderen.
Schlüsselunterweisungen ohne Worte
Dass Yishin Norbu in seinen letzten Tagen oft nicht reden konnte, hieß natürlich keinesfalls, dass er nicht kommunizierte. Manchmal ließ er seine nächsten Schüler für sich sprechen. Lama Lodru erlebte bei seinem Abschiedsbesuch, wie Karmapa die Hand Shamar Rinpoches nahm, der an seiner statt sagte: „Seine Heiligkeit bittet euch, nicht entmutigt oder traurig zu sein, er wird immer bei euch sein.“ Dabei schaute Seine Heiligkeit sanft und lachte. Die Worte schienen direkt von ihm zu kommen. Anschließend nahm Karmapa erneut Shamarpas Hand und dieser sagte – so als würden die Worte durch seine Hände übertragen: „Alles wird gut und ich werde euch bald wiedersehen!“ Als sich Lama Lodru voller Trauer über den nahen Tod Yishin Norbus verabschiedete, hörte er ihn innerlich und ganz ohne Worte sagen: „Bist du ein Narr? Alles was mir widerfährt ist so vollkommen natürlich wie die Geburt. Wir sollten inzwischen verstanden haben, dass es nichts gibt, was geboren wird und was stirbt.“ Dies war eine Schlüsselunterweisung, und in diesem Moment erhielt der Lama die tiefste Belehrung, die er je bekommen hatte.[12]
„Eure Heiligkeit, Sie sterben“
Nach all den Wochen, in denen Yishin Norbu diese ihm eigene vollkommene und gleichzeitig verspielte Meisterschaft über seinen Körper gezeigt hatte, verschlechterte sich am 3. November sein Zustand erneut drastisch. Seine Lungenentzündung spitzte sich derart zu, dass die Lungen zu versagen begannen. Selbst die äußere Natur schien dies widerzuspiegeln: Es gab einen plötzlichen Wintereinbruch, Nebel zog auf, und der erste Schnee fiel in der Stadt. An diesem Tag fragte Yishin Norbu Chefchirurg Dr. Ranulfo Sanchez, wie es um ihn stehe, und dieser antwortete nach einigem Zögern:
„Eure Heiligkeit, Sie sterben.“
Am darauffolgenden Tag setzten einige Organe aus. Und dann kam sein letzter Tag in dieser Inkarnation: der 5. November 1981. Gegen vier Uhr nachmittags zeigten sich erste Vorboten eines Herzinfarkts, der um 21 Uhr akut wurde. Dr. Levy:
Dann setzte das Herz für etwa zehn Sekunden aus. Wir belebten ihn wieder, es gab Probleme mit dem Blutdruck, aber auch das kam wieder in Ordnung. Für 25 bis 30 Minuten war er stabil, und dann sah es so aus, als habe er einen Herzinfarkt. Der Blutdruck sackte ab, was wir medikamentös nicht in den Griff bekamen.[13]
Schließlich hörte Yishin Norbus Herz auf zu schlagen. Doch auch dies nutzte Karmapa als Gelegenheit, seine Freunde in Erstaunen zu versetzen. Dr. Kotwal:
Karmapa verließ uns mit einem letzten Wunder. Nach zehn Minuten, in denen das Herz nicht mehr von alleine geschlagen hatte und die Durchblutung nur künstlich durch Herzmassage aufrechterhalten werden konnte, einigten wir uns, die lebensverlängernden Maßnahmen zu beenden und die Schläuche und Kabel vom Körper Seiner Heiligkeit zu entfernen.[14]
Dr. Levy benachrichtigte bereits die Rinpoches, dass Karmapa gegangen sei. Doch dann wendete sich das Blatt. Dr. Dwight McKee:
Es war wirklich ungeheuerlich. Etwa zehn Minuten, nachdem sein Herz zum zweiten Mal aufgehört hatte zu schlagen, schlug es von neuem, er bekam einen enorm erhöhten Blutdruck, und atmete wieder selbstständig. Er erwachte wieder zum Leben.
Dr. Levy:
Da dies eigentlich unmöglich war, rief ich: „Wer manipuliert den Monitor?“ Doch niemand tat das – Seine Heiligkeit war einfach ins Leben zurückgekehrt, so als wollte er sagen: „Ich bin noch immer da!“ Einer der älteren Rinpoches erklärte: „Es ist unmöglich, aber wahr!“ (...) Ich selbst glaubte, ohnmächtig zu werden ... Keiner sagte ein Wort. Wir hatten viel mit Seiner Heiligkeit erlebt, aber das war mit Sicherheit das größte Wunder, das ich je gesehen habe.
Fünf Minuten später hörte sein Herz erneut auf zu schlagen. Es war, als merke er, dass es nicht machbar sei, dass sein Körper ihn nicht mehr trug.[15]
Diesmal ging er endgültig.
Gyalwa Karmapa Rangjung Rigpe Dordje, einer der größten Bodhisattvas* des 20. Jahrhunderts, beendete am 5. November 1981 gegen 23 Uhr 30 seine 16. Inkarnation.
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[1] Karmapa kommentierte einmal die tibetische Bedeutung des Wortes: Shi = „Tod“ und Go = „Tor“.
[2] Dr. Levy in: Eller: Recalling a Buddha, a. a. O.
[3] Damm/Schneider u.a., Interview mit Dr. Dwight McKee, Juni 2017.
[4] Dr. Kotwal: God’s Own Death,~ a. a. O., S. 203.
[5] Dr. Levy, zit. n. Chender, Michael: His Holiness Dies in Zion, Illinois, Vajradhatu Sun January 1982, S. 28.
[6] Interview mit Patrick Wooldridge, Oktober 2014.
[7] Dr. Levy in: Eller: Recalling a Buddha, a. a. O.
[8] Dr. Levy, in: Ray: Secret of the Vajra World, a. a. O., S. 473.
[9] Dr. Levy, zit. n. Chender: His Holiness Dies in Zion, a. a. O., S. 28.
[10] Dr. Levy, in: Ray: Secret of the Vajra World, a. a. O., S. 473.
[11] Zit. n.: Lama Karma Wangchuk: Response to selected errors of fact in Mick Brown’s book [Dance of 17 Lives], part 2, www.karmapa-conflict.naropa.de/?p=258
[12] Lama Lodru: A Teaching Without Words, auf: kdk.org. Zu Schlüsselunterweisungen siehe S. 266).
[13] Dr. Levy in: Ray: Secret of the Vajra World, a. a. O., S. 475.
[14] Dr. Kotwal: God’s Own Death, a. a. O., S. 222.
[15] 1. Absatz: Dr. Levy in: Ray: Secret of the Vajra World, a. a. O., S. 475. 2. Absatz: Dr. Levy in: Chender: His Holiness Dies…, a. a. O., S.28. In späteren Schilderungen sprach Dr. Levy von einer Stunde Herzstillstand. Dr. Kotwal und Dr. McKee sprechen von etwa 10 Minuten – die Diskrepanz ist damit zu erklären, dass in solchen Situationen das Zeitempfinden sicherlich noch subjektiver ist als normalerweise.