Sylvia Beckwith:
Die karmische Ordnung der Vögel
Aus: Tricyle, Fall 1993.
Der 16. Karmapa war für seine Liebe zu Tieren berühmt. Das Buch widmet dieser ein ganzes Kapitel, ein kurzer Auszug daraus beschreibt den Besuch des Bird's Charitable Hosptal in Delhi.
Der 16. Karmapa in seiner Voliere im Kloster Rumtek
„An einem Nachmittag während des Delhi-Besuchs schlug Karmapa vor, das Jain-Krankenhaus für Vögel im alten Teil der Stadt zu besuchen. Sie fuhren in einem schwarzen Mercedes durch die dichte Menschenmenge des Lajpat-Rai, dem Markt am alten Red Fort.
Am Eingang des Krankenhauses aus rotem Ziegel wurden sie von den in weißen Baumwolltüchern gekleideten Bediensteten begrüßt, die gemäß der Hochachtung der Jains für Leben weiße Gaze-Masken trugen, um zu verhindern, dass sie beim Einatmen unabsichtlich Organismen töteten.
Kaum hatten den Eingang passiert, begannen sich die Vögel, die nicht in Käfigen waren, um Karmapa zu scharen. Manche hatten kleine Schienen von der Größe eines Zahnstochers, um die Heilung von Knochenbrüchen zu beschleunigen, andere kamen mit einem lahmen Fuß angehumpelt. Auch gab es einen Pfau, der überhaupt keine Beine mehr hatte. Die Jains waren zu dem tibetischen Heiligen sehr zuvorkommend und begleiteten ihn und seine Freunde durch das Krankenhaus. Als sie die Reihen von übereinander gestapelten Drahtkäfigen musterten, erklärte Seine Heiligkeit die karmische Ordnung der Vögel. Ganz zuoberst waren die Singvögel, die nicht nur Augen und Ohren erfreuten, sondern auch heilsam in ihren Nahrungswahl waren: Sie aßen nur Samen und säten mit ihren Exkrementen Blumen- und Obstbäume. Wirklich, ihre Gewohnheiten, ihre Schönheit und die Harmonie, die ihr Gesang verbreitete, rechtfertigten fraglos ihren ersten Platz in der Vogelhierarchie. Aber das Ende der Rangordnung war nicht so klar. ‚Wer sollte der letzte sein?’ fragte Karmapa – die Raubvögel oder die Plünderer, die sich von Aas ernährten? Türkische Geier beispielsweise töteten nicht selbst, boten aber nicht die majestätische Würde eines hungrigen Habichts oder die erstaunlichen Fähigkeiten eines trainierten Falken. Karmapa lachte über dieses Dilemma. Und er lachte auch, weil er sich freute, wie sorgsam sich die Jains um die vielen Vögel kümmerten.“
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