Nach einem Studium an der Yale Universität lernte Stucky Swami Muktananda kennen und lebte einige Jahre in seinem Ashram in Indien. Heute wohnt er in Boston. Die Schilderungen entstammen dem Interview, das er für dieses Buch gab und seinen eigenen Aufzeichnungen.
Am Sylvestertag 1973 – ich war gerade zu Besuch bei einem Dharmafreund in Bombay – klingelte das Telefon. Es war für mich. Ein Trustee des Ashrams von Baba Muktananda wollte mich sprechen. Er fragte mich, ob ich am nächsten Morgen für Baba einen wichtigen Dienst, einen Seva, ausführen könne: Der 16. Gyalwa Karmapa käme am mit dem Zug nach Bombay und ich sollte ihn am Bahnhof willkommen heißen. Selbstverständlich sagte ich zu. Zur verabredeten Zeit – ziemlich früh am Morgen – war ich vor Ort. Als der Zug eingefahren war, ging unser Willkommenskomitee zum beschriebenen Abteil, wo Karmapa sehr majestätisch und gleichzeitig in großer Einfachheit saß, umgeben von mehreren tibetischen Mönchen. Wir überreichten zur Begrüßung unsere Blumengirlanden. Ich erinnere mich, dass dieser kräftige Mann mit kurzen Haaren auf mich alterslos jung, völlig strahlend, ausgelassen und fröhlich wirkte und dennoch unerschütterlich in sich zu ruhen schien. Sobald ich in sein Abteil kam, schien es, als verstumme der Lärm des umtriebigen Bahnhofs der Metropole völlig, es war ruhig wie in einer sternenklaren Nacht. Als ich ihm die Girlande überreichte schaute ich ihm in die Augen – sie waren unglaublich tief, dunkel, ruhig und ekstatisch. Er gab mir einen freundschaftlichen Klapps auf meine Wange und bedankte sich, dass ich mithalf, den Besuch zu ermöglichen. Nach einem kurzen Besuch bei Didi Contractor[1] besuchte er den Shri Gurudev Siddha Peeth, Muktananda’s Ashram, wo er zwei Tage in den schönen Gästezimmern des Turiya Mandir wohnte. Am Nachmittag kam Baba in den Tempel des Mandir, um sich mit Karmapa zu treffen. Hierzu hatte man auch einige von uns Ashramites eingeladen. Es war erstaunlich wie verschieden die Energie dieser beiden großartigen Wesen war. Gleichzeitig ergänzten sie sich. Auf mich wirkte Karmapa noch massiver als zuvor, er war wie Mount Kailash, imposant und völlig ruhig. Wir saßen uns alle auf Kissen gegenüber und in der Mitte stand eine kleine Feuerschale, in der Holzkohle brannte und Feuerstäbchen geopfert wurden. Das Gespräch zwischen Baba und Seiner Heiligkeit war überwältigend. Es ging um das Verständnis, die Lehre und die Praxis des Dharma in der Kagyü-Linie und in der Siddha-Yoga-Linie. Zunächst diskutierten beide über Kundalini und Tummo, wie man es in Tibet nennt, darüber, wie es sich manifestiert, wenn es einmal erwacht ist und ob die beiden Ausdrücke das gleiche bedeuteten. Baba sprach dann von den C̣akras und ihrem Erwachen, von Śaktipāta [2], der grundlegenden Erfahrung der vier Körper des Erwachens, dem Blue Pearl[3], vielen anderen seiner Erfahrungen und der Stabilisierung des letztendlichen Zustands. Karmapa erklärte all dies in den Ausdrücken seiner eigenen Tradition, und es schien, dass, obgleich sich die Ausdrücke unterschieden, die Bedeutung die gleiche war. Baba diskutierte eine Weile das buddhistische Konzept der Leerheit und die illusorische Natur des Selbst, wobei er klarstellte, dass im Shivaismus das Licht von C̣iti, das reine Bewusstsein, als etwas verstanden wird, das die Leere erhellt, und dass man dieses im Hinduismus als reines und Höchstes Selbst (Paramātman) versteht. Karmapa stimmte zu und schien sein Einverständnis zu unterstreichen, indem er beschrieb, wie er selbst dieses Licht erlebte.[4]
Im heiligen Berg Kailash Seine Heiligkeit fragte schließlich: „Hast Du den Segen der 84 Mahāsiddhas im Mount Kailash bekommen?“ Baba bejahte und erzählte dann von einer Erfahrung, die er während seiner Sādhana-Tage hatte. Damals bestieg er den Kailash und kam zu einer Höhle, die er betrat. Sie war recht klein, doch plötzlich fand er den Eingang zu einem riesigen hell erleuchteten Raum, in dem die 84 Mahāsiddhas des alten Indiens saßen, die ihn hineinbaten. Ein jeder von ihnen begrüßte ihn und gab ihm Belehrungen. Anschließend luden sie ihn ein, mit ihnen zu sitzen und zu meditieren, was er gerne annahm. Das nächste, an das er sich erinnerte, war, dass er sich vor der Höhle liegend wiederfand. Er ging zurück in die kleine Höhle, wo allerdings nicht mehr den Eingang zum großen Gewölbe finden konnte. Seine Heiligkeit hörte Baba intensiv zu und nickte von Zeit zu Zeit zustimmend. Abgesehen davon, dass er Kopf und Augen leicht bewegte, saß er regungslos wie ein Berg. Muktanandas Gesten hingegen waren sehr lebendig und ausdrucksstark – in dauernder Bewegung. Dann fragte Muktananda: „Hattest Du diese Erfahrung auch?“ Seine Heiligkeit bejahte, beschrieb sie und nannte die Namen einiger der Mahāsiddhas. Der Austausch zwischen den beiden war sehr intensiv. Die Meister wurden durch ihre Schilderung lebendig und schienen wirklich den Raum gänzlich einzunehmen. Sowohl Baba als auch Seine Heiligkeit baten die Übersetzer, wirklich gut darauf zu achten, kein Detail zu vergessen. Beide versicherten, dass die Lehren, die sie von den Mahāsiddhas erhalten hatten, die letztendlichen und höchsten Lehren der Mahāsiddha-Linie darstellten, die in beiden Linien – sowohl in Tibet als auch in Indien – weitergegeben wurden. Sie beschrieben eine universelle Lehre, gänzlich frei von religiöser oder traditioneller Beschränkung oder Bindung, die nichts als die Wahrheit ausdrückte. Als dieses unglaubliche Dharma-Gespräch vorbei war, flammte das Feuer noch einmal kurz auf, sandte eine kleine Rauchwolke zur Decke und erlosch. Im Raum war es vollkommen still und alle versenkten sich in tiefer Meditation. Baba, Seine Heiligkeit und alle anderen saßen gänzlich still und regungslos, und diese Stille wurde von der draußen untergehenden Sonne gespiegelt. So saßen wir lange, vielleicht eine Stunde. Dann durchbrach Baba sanft das Schweigen und entschuldigte sich damit, dass ihn unten Aufgaben erwarteten, und ging, gefolgt von einigen Ashram-Bewohnern, hinaus. Ich jedoch konnte mich nicht rühren. Karmapa und die anderen Mönche saßen weiter still da, den Blick in die Glut gerichtet. Ich saß Karmapa genau gegenüber. Schließlich blickte er mir direkt in die Augen. Ich hörte nur noch, wie Karmapa und seine Gruppe den Raum verließen und sank in tiefe, formlose Meditation. Als ich aus der Meditation auftauchte, war nur noch ein wenig Glut in der Schale. Gemeinsam mit den zwei oder drei, die im Raum verblieben waren, verließ ich den Tempel. Ich erinnere mich noch lebhaft an den langen und intensiven Traum, den ich in der darauf folgenden Nacht hatte: Ich träumte von Karmapas Gesicht, dahinter war der Mount Kailash, dann verschwand Karmapa und es gab nur noch den heiligen Berg, seinen Gipfel und das göttliche blaue Licht dahinter… Die ganze Nacht erfuhr ich den intensivsten und kraftvollsten freudvollen Frieden, den man sich vorstellen kann.
Zwei Kronenzeremonien Am Vormittag des nächsten Tages wurde im Haupttempel des Ashrams das Muschelhorn geblasen. Es kündigte die Schwarze-Kronen-Zeremonie an. Man hatte Karmapas Thron gegenüber der großen Statue von Bhagavan Nityananda, Muktanandas Guru, aufgebaut, vor dem wir uns niederließen. Ganz hinten saß Baba auf einem einfachen Stuhl. Karmapa betrat den Temple in sehr beeindruckenden zeremoniellen Roben. Er trug einen riesigen Hut aus Brokat, wirkte sehr würdevoll und schritt langsam und feierlich zu seinem Thron. Unter dem stetigen Crescendo der tibetischen Musik stieg er die Stufen seines sicher einen Meter hohen Throns hinauf, der mit strahlend bunten Kissen und Seidentüchern geschmückt war. Als er sich setzte, spielten die Gyalings ein noch energiegeladeneres Crescendo. Begleitet von den Gebeten der Mönche, verbeugten sich alle vor dem Thron. Karmapas blickte eine Weile konzentriert über unsere Köpfe hinweg in den Raum. Er nahm er seinen Hut ab und reichte ihn einem Mönch, der auf der einen Seite des Throns stand. Auf der anderen Seite von ihm öffnete ein anderer Mönch eine runde Hutschachtel, in der sich die Schwarze Krone befand. Genau im diesem Augenblick krönte man die Statue Nityanandas am anderen Ende des Raums mit einer Krone aus Gold, Silber und Juwelen. Ebenso wie die tibetischen Gebete wurde auch die Rezitation der Mantras auf Sanskrit intensiver. Karmapa nahm die Schwarze Krone entgegen und setzte sie sich auf. Er war in vollkommener Einsgerichtetheit – der höchsten yogischen Versenkung in den natürlichen Zustand. Baba blickte in Karmapas Richtung, ebenfalls in tiefer Versenkung. Der Klang der Mantras, Zimbeln, Gyalings und Trommeln im Raum wurde ohrenbetäubend und das Śakti (die Energie) wurde so durchdringend, dass viele umzukippen oder ohnmächtig zu werden drohten, wieder andere wurden von physischen Kriyās gerüttelt.[5] Seltsamerweise spürte man trotz all der lauten Klänge gleichzeitig die immense, umfassende und tiefe Stille des zeremoniellen Ereignisses. Schließlich kam Karmapa aus seiner Versenkung und ersetzte die Schwarze Krone durch die ursprüngliche Brokatkrone. Zeitgleich nahm man die Krone Nityanandas ab und ebenso zeitgleich kamen sowohl die Rezitationen des tibetischen Rituals als auch die der Sanskrit-Mantras zu einem Ende. Jetzt waren alle eingeladen, für einen Segen nach vorne zu Karmapa zu kommen, wobei er allen ein Bändchen gab, das mit der ganzen Segenskraft des Ereignisses geladen war. Einer nach dem anderen kamen wir alle nach vorne und verfließen den Raum, um uns auch vor Baba zu verneigen, der seinen Stuhl in den Hof gestellt hatte. Am nächsten Morgen setzte Karmapa und seine Gruppe seine Reise fort und wurde von Baba königlich verabschiedet.
[1] Sie hatte gemeinsam mit Sister Palmo den Besuch ermöglicht.
[2] Swami Shankarananda: „Baba vermochte das schlafende Kuṇḍalinī-Śakti der Praktizierenden zu erwecken. Dies nennt man Śaktipāta.
[3]Neel Bindu in Sanskrit. Es wurde von Muktananda im Moment seiner höchsten Verwirklichung erfahren und war seither Kernstück seiner Lehren: Es habe die Größe eines Samens und sei der Ort des Inneren Selbst. (siddhayoga.org). Im Buddhismus hat die manchmal lichthaft beschriebene Qualität des Geistes allerdings keine Farbe.
[4] Wenn Karmapa die Ähnlichkeiten der beiden Siddha-Traditionen schätzte, heißt dies keinesfalls, dass er die beiden Wege für gleich hielt. Ähnlich wie die Rime-Tradition, die alle Schulen respektierte, schätzte er die Eigenheiten einer jeden Tradition.
[5]Ist durch Śaktipāta die Kuṇḍalinī-Energie sehr aktiv, kann sie Prozesse herbeiführen, die man Kriyās nennt, welche verschiedene Blockaden lösen und den freien Fluss der Kuṇḍalinī-Energie erlauben. Kriyās können sich in manchmal unkontrollierten Bewegungen des Körpers äußern.