Das Große Zeltlager der Karmapas [1]
Während Karmapas Jugend in Tibet war das Land auf dem „Dach der Welt“ noch schwer zu bereisen. Bevor in den 1950er Jahren die ersten Jeeps ins Land kamen, durchquerte Yishin Norbu es zu Pferde oder in einer Sänfte. Wie die Karmapas vor ihm war er oft Wochen oder Monate unterwegs, um seine Schülerinnen und Schüler im ganzen Land zu besuchen. Um diese Zeit sinnvoll zu nutzen, etablierte bereits der Vierte Karmapa das Gartschen, das große Zeltlager, und von Khenpo Karthar Rinpoche wissen wir, dass es „während vieler Inkarnationen ein wichtiger Aspekt von Karmapas Aktivität“ war. Der Vierte bis Neunte Karmapa verbrachte einen großen Teil seines Lebens als Erwachsener im Gartschen, in dem ihn Hunderte oder sogar Tausende seiner Schüler auf seinen Reisen begleiteten, die von seiner Präsenz und seinem Segen zu profitieren wünschten.[2]
Die Voraussetzungen, hierzu zugelassen zu werden, waren streng: Man musste entweder bereits die Mahāmudrā-Vorbereitungen (Tib.: Ngöndro) abgeschlossen oder eine äußerst große Anzahl von Mani-Mantras rezitiert haben und obendrein bereit sein, sich während allen vier Sitzungen des Tages[3] ausschließlich mit dem Dharma zu beschäftigen. Das Gartschen bestand aus verschiedenen Bereichen. Blieb das Zeltlager an einem Ort auf, hielten im Retreatteil die Mitglieder die Disziplin einer Meditationsklausur aufrecht – in seiner Blütezeit bis zu fünfhundert Menschen. Jeder von ihnen hatte ein eigenes Zelt, das gerade groß genug war, um darin zu sitzen. In einem anderen Teil reisten die Thangka-Maler der Karma-Gardri-Tradition, das nach dem Zeltlager benannt war. Zu Zeiten des Siebten Karmapa Tschödrak Gyamtso (1454-1505) waren es hunderte Künstler, die im Zeltlager lebten, das sogar ein buddhistisches Studieninstitut beherbergte. Die Zeit wurde gut genutzt, selbst die Mittagspause. Sobald man mit dem Essen fertig war, begannen alle gemeinsam den Kangyur zu rezitieren. Das gleiche tat man unterwegs: Junge Mönche verteilten den Mitreisenden jeweils einige Seiten des 108-bändigen Werkes, die sie zu Pferde rezitierten.
Obwohl die Tibeter fast alle Fleisch essen, war die Kost im Gartschen über dreihundert Jahre vegetarisch. Fünfhundert Maultiere wurden allein benötigt, um das Gepäck des Lagers zu tragen, zu dem auch eine umfangreiche Bibliothek gehörte. Aufgrund der Größe wurde das Camp unterwegs oft aufgeteilt, da in den oft armen Nomadenregionen, in denen man das Lager aufschlug, ein einziger Ort allein das komplette Zeltlager nicht verkraftet hätte.
Karmapa und die mit ihm reisenden Praktizierenden hatten eine sehr heilsame Wirkung auf die Gegenden, die sie besuchten. Khenpo Karthar:
„Allein dadurch, dass Karmapa vorübergehend irgendwo das Lager aufschlug und unterrichtete, war er in der Lage, kriegerische Auseinandersetzungen zu schlichten und großen Reichtum zu bringen.“[4]
Aber nicht nur die Menschen profitierten von ihm und spürten seine Ausstrahlung, sondern auch Tiere, wie Karmapa später während eines seiner Besuche im Westen erzählte:
„Wenn das Zeltlager (…) in der tibetischen Wildnis aufgestellt wurde, war es bald von allen möglichen Tieren umgeben, sowohl Raub- als auch Beutetieren, die alle während der Anwesenheit des Lagers friedlich miteinander lebten, so als würde seine Energie die Tiere zähmen.“[5]
Karmapa Tschödrak Gyamtso war der Begründer des Kagyü-Mönlams, des alljährlichen Gebetsfestivals, das ebenfalls im Gartschen abgehalten wurde. Auch der Achte Karmapa Mikyö Dordje (1507-1554) reiste viel mit dem Gartschen und hielt gleichzeitig die Disziplin eines Retreats aufrecht – und schrieb hierfür den „Guru Yoga in vier Sitzungen.“
Im 17. Jahrhundert griff der mongolische Kriegsherr Gushri Khan, der kurz zuvor den Fünften Dalai Lama zum spirituellen und weltlichen Oberhaupt aller Tibeter erklärt hatte, das Zeltlager an. Es wurde zerschlagen und viele fanden den Tod. Karmapa selbst floh – oder, wie es der Überlieferung nach heißt, flog – nach Yunnan/China, wo er Jahrzehnte im Exil verbrachte. Spätere Karmapas etablierten das Camp neu, deren Mitglieder beständig an Zahl zunahmen, bis es in der Jugend des 16. Karmapa wieder hunderte von Schülern umfasste.
[1]Der Abschnitt über das Zeltlager basiert auf folgenden Quellen: Mendong Tshampa Rinpoche Ngaydon Tenjay, in: Khenpo Karthar Rinpoche; Lama Yeshe Gyamtso (Übers.): The Lives of the Karmapas, KTD Publications (in Vorb.); Tulku Urgyen Rinpoche: Strahlende Vollkommenheit, Edition Manjhugosha 2016, S. 221), Karma Trinle Rinpoche: The 37 Practices of a Bodhisattva, Nov 2003 KIBI und Lhundup Damchö (Diana Finnegan) (Hrsg.): Karmapa: 900 Jahre, 2011, S. 78/79.
[2]Nach The Garland of Moon Water Crystal von Situ Chokyi Jungnay und Belo Tsewang Kunkhyab waren dies 10.000 Menschen. Allein um die mitgeführten Texte zu transportieren brauchte man fünfhundert Maultiere.
[3]Frühmorgens, vormittags, am Nachmittag und abends. Der vierte Karmapa selbst bspw. praktizierte im Gartschen morgens bis 9 Uhr, bis Mittag gab er Unterweisungen, um die Mittagszeit machte er Niederwerfungen und Gehmeditation. Nachmittags praktizierte er Avalokiteśvara und abends studierte er und schrieb Texte. Nachts praktizierte er Traumyoga.
[4]Khenpo Karthar Rinpoche, Lama Yeshe Gyamtso (Übers.): Karma Chakme's Mountain Dharma, Volume Four, (evtl ~###) KTD Publications 2010, S. 79.
[5]Suzanne Duarte in: http://radiofreeshambhala.org/2012/09/knower-of-the-three-times/