Ich kann mich glücklich schätzen, vom 16. Karmapa viele Belehrungen erhalten zu haben. Wenn er in Kathmandu war, umschritt er oft mitten in der Nacht den Großen Stupa in Bodhnath, da er tagsüber viel zu tun hatte. Ich war damals noch ein Kind und durfte mit ihm kommen, wenn er nachts um halb drei den Stupa umrundete. Erst jetzt habe ich richtig zu schätzen gelernt, dass die buddhistischen Belehrungen nicht verbal gegeben oder gar philosophisch fundiert sein müssen. Früher war ich wohl zu jung, um mir dessen voll und ganz bewusst zu sein. Erst jetzt verstehe ich, dass die Präsenz des 16. Karmapa oder anderer lebender Buddhas und großer Meister allein bereits ausreicht, die Essenz des Buddhadharma zu übertragen. Diese Meinung teile ich mit vielen anderen, die den 16. Karmapa trafen, auch mit Menschen aus dem Westen, wo man zu seinen Lebzeiten gerade erst begann, mit dem Dharma in Kontakt zu kommen. Selbst die stursten Akademiker und größten Egomanen spürten in Gegenwart von Seiner Heiligkeit Karmapa, dass sich in ihnen etwas veränderte: Selbst wenn sie keine Belehrungen von ihm erhielten, öffneten sie sich. Khenpos, Intellektuelle, Gelehrte und Leute wie ich bemühen sich jahrelang, den Menschen möglichst viel beizubringen. All unsere Logik und all unsere Erklärungen können diese vielleicht während des Unterrichts einen Morgen lang überzeugen, doch kaum haben sie den Seminarraum verlassen, ist all das Gelernte schon wieder vergessen, schon dann erinnern sie sich an kaum noch etwas davon. Aber wenn wir in die Gegenwart von jemandem wie Seine Heiligkeit Karmapa kommen, stößt er etwas in uns an, das weit länger und tiefer in uns nachwirkt, als all dieses Theoretisieren. Was wirklich am meisten zählt, ist die Präsenz der Buddhas und Bodhisattvas, ihre Art zu sein. Da sie so sind, wie sie sind und so leben, wie sie leben, müssen sie dafür noch nicht einmal etwas Besonderes tun. Die Art und Weise allein, wie sie sich manifestieren, ist ein lebender Beweis für den Dharma. Das ist besonders in unseren Tagen wichtig, wo die falschen Sichtweisen so sehr überhandnehmen, Sichtweisen, die man nur schwer oder gar nicht durch Logik allein widerlegen kann. Ganz im Gegenteil, Logik birgt sogar die folgende Problematik in sich: Je geschickter man sich ihrer bedienen kann, umso größer ist die Gefahr, eine falsche Sichtweise anzunehmen und seinen Scharfsinn dazu zu nützen, um seinem irrigen Standpunkt zu untermauern. Eben gerade diese physische Präsenz von jemandem wie dem 16. Gyalwa Karmapa ist der Beweis für die richtige Sicht, und dies kann uns die größte Inspiration geben. Bis zum heutigen Tag schätze ich mich glücklich, dass ich mich einen, wenn auch armseligen, Schüler von ihm nennen kann. Und wir alle haben das Glück, dass es das vorliegende neue Buch über sein Leben gibt.
Dzongsar Jamyang Khyentse Rinpoche, geboren 1961 in Bhutan, ist die Wiedergeburt von Dzongsar Khyentse Tschökyi Lodrö, der wiederum eine der 5 wichtigsten Wiedergeburten des großen Rime-Meisters Djamyang Khyentse Wangpo war. Rinpoches Website: http://www.siddharthasintent.org/