Freske der Karma-Kagyü-Meister von Denzong Norbu in Kündröl Ling, Le Bost, Frankreich.
Auszug aus der Einleitung von „Strahlendes Mitgefühl“
Kurze Geschichte des Ursprungs der Kagyü-Tradition
Nach dem Parinirvāṇa des Buddha bildeten sich über die Jahrhunderte immer neue buddhistische Unterschulen aus, die die Lehren Buddhas weiter differenzierten, um den Menschen je nach ihrer Veranlagung am besten helfen zu können, sich aus ihren Mustern zu befreien. Zwischen den drei Fahrzeugen, den buddhistischen Hauptströmungen Theravāda*, Mahāyāna* und dessen Unterschule, dem Vajrayāna,* besteht allerdings kein Widerspruch, denn „die tadellosen Lehren Buddha Śākyamunis“ dieser buddhistischen Traditionen, so der 16. Karmapa, „dienen alle dem gleichen Ziel, nämlich die Schüler in ihren Bemühungen zu unterstützen, die wahre Natur des eigenen Geistes gänzlich zu verwirklichen und sich vollkommen vom Leiden zu befreien.“[1]
Der Vajrayāna, auch Tantrayāna, Mantrayāna oder Diamantweg genannt, bekam im Indien der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. immer größeren Zulauf. Seine Lehren hatten und haben, so Karmapa weiter,
„den gleichen Effekt wie ein Flächenbrand, der einen trockenen Berghang erfasst. Ihr großes Feuer entfachte die Weisheit von zahllosen realisierten Siddhas* im alten Indien.“
Neben den komplizierten Praktiken des Vajrayāna ist das Herzstück der Kagyü-Schule eine sehr schlichte Praxis, die leicht zu benennen, aber schwer zu verwirklichen ist: Mahāmudrā. Diese, so Karmapa, „befähigt uns, jeden einzelnen Augenblick in seiner Momenthaftigkeit zu erkennen und die Natur des Geistes zu verwirklichen.“ Sie geht auf den indischen Mahāsiddha Saraha zurück, der etwa im achten Jahrhundert n. Chr. lebte.
Da die verschiedenen indischen Meister der Mahāmudrā-Übertragung ein ausgesprochen einfaches Leben führten, ist selbst von Saraha nicht einmal bekannt, wann er genau lebte. Erst von späteren Meistern wissen wir mehr, wie etwa von Naropa, der im 11. Jahrhundert einem Teil der berühmten Klosteruniversität Nālandā vorstand. Er erkannte eines Tages dank der Hilfe einer Dakini*, dass rein intellektuelles Verständnis nicht das Ziel des buddhistischen Weges sein könne, legte sein Amt nieder, lebte unter einfachsten Umständen und fand unter Anleitung des Mahāsiddhas Tilopa vollkommenes Erwachen.
Im 11. Jahrhundert machte sich, ebenso wie andere seiner mutigen Zeitgenossen[2], ein junger Mann namens Marpa Lotsāwa (1012–1097) auf den entbehrungsreichen und damals ausgesprochen gefährlichen Weg von Tibet nach Indien, um bei den dortigen Meistern zu lernen. Er traf die damals bedeutendsten Verwirklichten der Mahāmudrā-Linie, darunter Nāropa (1016–1100) und Maitrīpa (ca. 1007–1085), die seine wichtigsten Lehrer wurden. Auch er fand Erleuchtung. Zurück in Tibet übersetzte er die erhaltenen Lehren und übertrug sie dem großen Yogī* Milarepa (1040–1123). Dieser ließ in der tibetischen Bergeinsamkeit alle weltlichen Bindungen, persönlichen Interessen und Belange gänzlich hinter sich, sprengte alle Konventionen und praktizierte, obwohl er oft dem Hungertod nahe war, in der eisigen Kälte abgelegener Höhlen im ewigen Schnee des Himalaya bis zum vollkommenen Erwachen. Er, der nie berühmt werden wollte, wurde aufgrund seiner Verwirklichung zu einem der berühmtesten Meister Tibets – und zu einem großen Vorbild sowie dem nächsten Halter der Kagyü-Linie. Unter seinen Schülern war ein Mönch, der zuvor der Kadampa* Tradition gefolgt war, die der große indische Meister Atīśa Dīpamkāra Śrījñāna (980-1054) nach Indien und später nach Tibet gebracht hatte: Gampopa Sönam Rinchen (1079–1153). Dieser sehnte sich nach intensiver Praxis und fand schließlich zu Milarepa, der ihn die yogischen Praktiken des Tantra lehrte. Schon wenig später fand er das Juwel vollkommenen Erwachens. Waren die vorherigen Linienhalter ausschließlich „Laien“[3], führte Gampopa nun die monastische Tradition in die Linie ein. Gleichzeitig integrierte er den Stufenweg der Kadampa Tradition in die Kagyü Tradition Marpas. Zur Zeit Gampopas breitete sich der Dharma in Tibet stark aus: Überall studierten und vor allem praktizierten Menschen mit großem Engagement und bisweilen vollkommener Selbstaufgabe den Dharma.
Die Linie der Karmapas [4]
„Ich selbst bin jenseits von Geburt und Tod, aber ich nehme wieder und wieder Geburt an. Ich bin nicht an eine Existenz gebunden, aber ich manifestiere mich in einer Existenz. Ich bin jenseits des Todes, aber ich zeige den Tod. Obschon ich nicht Wiedergeburt annehmen muss, werde ich von neuem Wiedergeburt annehmen.“[5]
Siebter Karmapa Tschödrak Gyamtso
In dieser Aufbruchsstimmung wurde im Jahr 1110 ein Kind geboren, das bereits in jungen Jahren erstaunlich wenig Interesse an weltlichen Dingen zeigte.
Düsum Khyenpa, der Kenner der drei Zeiten – so sein späterer Name – , wurde zu einem der drei Hauptschüler von Gampopa und fand bald vollkommene Verwirklichung. Er wurde noch zu Lebzeiten von den beiden großen Mahāsiddhas* Śākyaśrībhadra (1127-1225) und Schang Yudrakpa Tsöndru Drakpa (1122-1193) als derjenige erkannt, dessen Kommen als Karmapa in den bereits zitierten Prophezeiungen vorausgesagt worden war.
Düsum Khyenpa wurde seinem Namen gerecht und wusste bereits kurz vor dem Tod, wo er Wiedergeburt annehmen würde. Er setzte sogar seine künftigen Eltern davon in Kenntnis, indem er ihnen ankündigte, er werde sie „bald besuchen.“ Gleichzeitig machte er seinen hochverwirklichten Hauptschüler Drogön Retschen Sönam Drakpa (1148-1218) zum Linienhalter und gab ihm Hinweise zu seiner nächsten Inkarnation.
Statt eines weiteren Besuchs von Düsum Khyenpa – er vollzog bald darauf sein Parinirvāṇa – bekamen die genannten Eltern bald ein Kind. Dieses wurde einige Jahre danach als Wiedergeburt des Ersten Karmapa anerkannt: Seine Besuchsankündigung war also ein Hinweis auf seine Wiedergeburt gewesen! Der Zweite Karmapa (1204–1283), der später vom chinesischen Kaiser den Namen Karma Pakśi bekam, wurde im Kloster Tsurphu (Zentral-Tibet), das der erste Karmapa als Achtzigjähriger gegründet hatte, inthronisiert. So entstand die Linie der Karmapas, die erste der mehr als tausend Reinkarnationslinien in Tibet.
Das Sanskritwort Karmapa bedeutet „der, der handelt“. Dies bedeutet, dass Karmapa die Verkörperung der Aktivität aller Buddhas ist. Diese Aktivität manifestierte Karmapa über die Jahrhunderte in guten und schlechten Zeiten. Mal war er Lama der mongolischen und chinesischen Kaiser, wie u. a. der Zweite bis Fünfte Karmapa, mal ein Gelehrter – wie etwa der Achte Karmapa, der viele philosophische Texte verfasste und auf dessen Guru Yoga noch heute viele meditieren. Dann wiederum reiste seine zehnte Inkarnation als Bettler durch Tibet, da er von den Mongolen, die eine andere buddhistische Strömung ins Land geholt hatte, aus seinem Kloster vertrieben worden war. Die zwei darauffolgenden Inkarnationen mussten ihre Aktivität der schwierigen Lage, in der sich die Karma-Kagyü-Linie in dieser Zeit befand, anpassen und lebten nur kurz. Der Dreizehnte Karmapa wurde für seine Begabung bekannt, selbst ganz einfachen Menschen, die er in den entlegensten Gebieten Tibets besuchte, den Dharma zu lehren und sogar Tiere zu unterrichten. Zu neuer Blüte kam die Linie mit dem 14. Karmapa Thegschog Dordje. Dieser engagierte sich stark in der Rime-Bewegung, die auch als „Renaissance-Bewegung“ oder ökumenische Strömung des tibetischen Buddhismus bezeichnet wird:[6] Sie wirkte der starken Polarisierung und den Spannungen, die sich bisweilen zwischen den verschiedenen Traditionen über die Jahrhunderte ausgebildet hatten, entgegen, ohne dabei die Besonderheiten der jeweiligen Schule zu verleugnen. Der 15. Karmapa Khakhyab Dordje gab seine Gelübde zurück, da ihm vorausgesagt worden war, dass tantrische Praktiken mit einer Partnerin großen Nutzen bringen würden.[7] Wie sein Vorgänger erhielt er Unterweisungen aus allen Schulen und beteiligte sich wie sein Vorgänger an der Rime-Bewegung, die auch das geistige Klima, in das der 16. Karmapa hinein geboren wurde, bestimmte. Im Frühjahr 1922 vollzog er den großen Übergang.
Detailliertere Biographie der Meister der Karma-Kagyü-Linie werde ich nach und nach auf der Website http://karma-kagyu-meister.karmapabiographie.de veröffentlichen.
[1] HH the 16th Gyalwa Karmapa: Inspiration for the Monastery.
[2] Andere solche Übersetzer waren Atīśa-Schüler Rintschen Sangpo (958–1055), Drokmi Lotsawa (992-1072), auf die die Sakya Schule zurückgeht und Khyungpo Näldjor (ca. 11. Jh.), der Gründer der Shangpa-Kagyü-Schule.
[3] Nach wie vor reichen wenige an die Verwirklichung dieser ersten Lehrer der Mahāmudra-Übertragung heran. Dies zeigt ein weiteres Mal, dass der Ausdruck „Laie“ vollkommen unpassend ist, da er normalerweise im allgemeinen Sprachgebrauch als Gegensatz zu Profi verwendet wird. Ich verwende daher im Folgenden hauptsächlich den Sanskrit-Begriff Upāsaka.*
[4] Mehr zu den Karma-Kagyü-Meistern auf der Website http://karma-kagyu-meister.weebly.com
[5] Pawo Tsuglag Trengwa; Droupeun Tèndzine & Sherab Palmo (Übers.): Biographie von Mikyö Dorje (1507–1554), S. 2 (Auszug aus dem Kepe Gatön (mkhas pa'i dga' ston Festmahl der Gelehrten), S. 371.1–560.3, Kundreul Ling, Biollet, 2006/2007).
[6] Als Gründer und wichtigste Vertreter der Rime-Bewegung gelten Djamgön Kongtrül Lodrö Thaye* und Djamyang Khyentse Wangpo.*
[7] Dem 15. Karmapa wurde in einem Terma*, einem der versteckten Schätze Padmasambhavas, geraten, mit einer Partnerin zu praktizieren, um gewisse Blockaden in seinem feinstofflichen Energiesystem zu überwinden, die lebensbedrohlich waren. Als er so krank wurde, dass er bereits einen Hinweisbrief zu seiner nächsten Inkarnation verfasste, kam er Padmasambhavas Rat nach. Bald schon wurde er wieder gesund.
Die Linie der Mahamudra Übertragung
-Es gibt die lange Übertragung, die bei Saraha beginnt sowie die kurze, die mit Tilopa ihren Anfang nahm-
Saraha ca. 8. Jhd
Nāgārjuna ?
Śavaripa ?
Tilopa (988–1069)
Nāropa (1016–1100)
Marpa der Übersetzer (1012–1097)
Milarepa (1040–1123)
Gampopa (1079–1153)
Erster Karmapa Düsum Khyenpa (1110–1193)
Drogön Retschen (1148–1218)
Pomdrakpa (1170–1249)
Zweiter Karmapa, Karma Pakśi (1204–1283)
Orgyenpa (1230–1312)
Dritter Karmapa Rangdjung Dordje (1284–1339)
Gyalwa Yungtön Dordje Pal (1296–1376)
Vierter Karmapa Rölpe Dordje (1340–1383)
Zweiter Shamarpa Katschö Wangpo (1350–1405)
Fünfter Karmapa Deschin Schegpa (1384–1415)
Ratnabhadra (Tib. Rintschen Sangpo) (15. Jahrhundert)
Sechster Karmapa Thongwa Dönden (1416–1453)
Bengar Djampel Sangpo (15.–16. Jahrhundert)
Erster Gyaltsab Rinpoche Päldjor Döndrub (1427–1489)
285 Siebter Karmapa Tschödrag Gyamtso (1454–1506)
Erster Sangye Nyenpa Taschi Päldjor (1457–1525) Inhaltsübersicht
Achter Karmapa Mikyö Dordje (1507–1554)
Fünfter Shamarpa Köntschog Yänlag (1525–1583)
Neunter Karmapa Wangtschug Dordje (1556–1603)
Sechster Shamarpa Tschökyi Wangtschug (1584–1635)
Zehnter Karmapa Tschöying Dordje (1604–1674)
Siebter Shamarpa Yesche Nyingpo (1631–1694)
Elfter Karmapa Yesche Dordje (1676–1702)
Achter Shamarpa Tschökyi Döndrub (1695–1732)
Zwölfter Karmapa Djangtschub Dordje (1702–1732)
Achter Situpa Tschökyi Djungne (1699–1774)
Dreizehnter Karmapa Düdül Dordje (1733–1797)
Zehnter Shamarpa Mipham Tschödrub Gyamtso (1742–1792)
Neunter Situpa Pema Nyindje Wangpo (1774–1853)
Vierzehnter Karmapa Thegtschok Dordje (1798–1868)
Djamgön Kongtrül Lodrö Thaye (1813–1899)
Fünfzehnter Karmapa Khakhyab Dordje (1871–1922)
Elfter Situpa Pema Wangtschog (1886–1952)
Zweiter Djamgön Kongtrül Khyentse Öser (1904–1953)
Sechzehnter Karmapa Rangdjung Rigpe Dordje (1924–1981)
1Trungpa Rinpoche spricht davon, dass er mit seinem Vorbild – er erhielt Lehren aller Linien – Jamgön Kongtrül zu dem Rime Ansatz inspiererte (Siehe Die Linie der Karmapas auf S. #).
aus: Gerd Bausch: Das Leben des 16. Karmapa. All rights reserved.
1Die Kadampa-Tradition legt besonderen Wert auf den stufenweisen Weg der Verbindung von heilsamen Handeln und tieferem inneren Verständnis (Verdienst und Gewahrsein).
2Dies zeigt ein weiteres Mal, dass das Wort Laie vollkommen unpassend ist, da normalerweise als Gegensatz zu Profi verwende wird. Nach wie vor kommen wenige an die Verwirklichung dieser ersten Lehrer der Mahamudra-Übertragung heran.
3dus gsum mkhyen pa