„Selbstverständlich bauen wir das Kloster! Es gibt keinen Grund, warum wir es nicht schaffen sollten! Zur Zeit des Ersten Karmapa bauten sie ein Kloster zu dritt!“ Der 16. Gyalwa Karmapa[1]
Am 22. November 1962 überschrieb der sikkimische König Yishin Norbu feierlich die versprochenen dreißig Hektar für den Klosterbau. Dank der finanziellen Hilfe des indischen Präsidenten Nehru und der erwähnten Spende des bhutanischen Königs, die Yishin Norbu und andere Tibeter mit einer persönlichen Spende aufstockten, konnte bald der Bau des neuen Klosters Rumtek beginnen, das man dringend als Ort für die Übertragung, Praxis und Bewahrung des Dharma sowie als Ausgangspunkt für dessen weltweite Verbreitung benötigte. Rigpe Dordje zögerte nicht, diese große Aufgabe in Angriff zu nehmen, obwohl seine Schüler durchaus Zweifel hatten, ob und vor allem wie sie ein solch großes Projekt unter diesen Umständen umsetzen sollten. Lama Tönsang: „An einem Tag, manche Mönche hatten etwas Tumpa, eine Art sikkimisches Bier getrunken, diskutierten wir gemeinsam Karmapas neue Pläne: ‚Karmapa sagt, wir sollen ein neues Kloster bauen, aber wir haben überhaupt kein Geld, entsprechend werden wir es nicht tun!’ Am gleichen Abend rief Karmapa alle von uns zu sich. Obwohl ihm niemand davon berichtet hatte, erzählte er uns, über was wir tagsüber gesprochen und gescherzt hatten, was uns natürlich etwas peinlich war. Karmapa fügte hinzu: ‚Bier zählt nicht zu den Getränken, die ein Mönch trinken sollte, und wir werden ein Kloster bauen! Es gibt keinen Grund, warum uns dies nicht gelingen sollte. Lamas, Mönche und Sponsoren werden das möglich machen!’“[2] Mit Karmapas Klarsicht mussten seine Schüler leben! Ganz ohne Zweifel darüber, ob seine Anstrengungen erfolgreich sein würden, wandte er sich schon kurz darauf an die gesamte tibetische Gemeinschaft, die sich in und um Rumtek angesiedelt hatte. Er bat alle, beim Bau Hand anzulegen. Lama Tsültrim Namgyal erinnert sich: „Karmapa rief alle Flüchtlinge zu sich und sagte: ‚Ich brauche Hilfe – wer von euch ist bereit mitzuarbeiten?‘ Die meisten, die sich meldeten, waren Mönche, aber es halfen auch viele Laien. Er erklärte: ‚Ein Kloster zu bauen ist ein hervorragendes Mittel, um schlechtes Karma zu reinigen.*‘ Alle waren bereit mit anzupacken.”[3] Karma Dordje: „Bevor das Kloster gebaut wurde fertigte Karmapa gemeinsam mit Lopön Geshe, einem alten, handwerklich geschickten Mann, und seinem Generalsekretär Damtschö Yongdu ein Modell des künftigen Klosters an, das Karmapas Vision darstellte. Das Kloster mag innen vielleicht nicht besonders groß sein, aber es ist erstaunlich, wie wohlproportioniert es ist. Seither wurden auf der Welt zahlreiche Klöster gebaut, und viele, die ein Kloster planten, kamen nach Rumtek, um seine Maße zu nehmen, aber keinem gelang es, etwas Vergleichbares zu bauen. Der Karmapa hatte keine weitere Hilfe, er vereinte in sich Bauherr, Architekt und Ingenieur. Die Gebäude wurden ausschließlich nach seinen Anweisungen errichtet, kein Fachwissen dieser Welt kommt an sein Können heran, das ist die Qualität des Karmapa.“[4] Bevor die Bauarbeiten begannen, segnete Karmapa das Gelände mit der einwöchigen Praxis des Yidams* Cakrasaṃvara. Am 17. Januar 1963 begannen die Erdarbeiten, riesige Aushubmengen mussten in dem steilen Gelände bewegt werden. Mönche und Laien arbeiteten zehn Stunden am Tag in Hitze und Kälte, um so schnell wie möglich das Fundament des Klosters zu legen. Lama Tönsang erinnert sich: „Karmapa sagte, wir sollten zuerst die Bäume fällen. Dann hoben wir die Erde aus, um die Fläche für das Fundament zu ebnen. Wir waren eine Gruppe von vierzig, fünfzig, manchmal achtzig Leuten, die mit diesen Arbeiten beschäftigt waren. Um eine ebene Fläche für das Kloster zu bauen, mussten riesige Erdmengen abgetragen werden, (...) denn es sollte ein fünfgeschossiges Gebäude entstehen. Wir arbeiten damals nur mit Spitzhacke und Spaten, wir hatten keine Maschinen, nur manchmal kam etwas Sprengstoff zum Einsatz. Eines Tages schickte uns Karmapa einen Mönch, um uns auszurichten, dass es zu einem Erdrutsch kommen könne. Und so bestimmten wir jemanden, der aufpassen und uns warnen sollte, sobald sich Erde oder Felsen bewegten. Dann sackte wirklich etwas Erde ab, nicht viel, aber genug, um jemanden unter sich zu begraben. Wir rannten davon und prüften anschließend, ob jemand von uns fehlte. Tatsächlich war Tendzin Gyurme[5] nicht mehr zu sehen. Gemeinsam räumten wir die Erde weg und etwas Rotes kam zum Vorschein, wir befreiten Tendzin-la, völlig geschwächt rezitierte er Karmapa Khyenno. Zum Glück hatte er sich nichts gebrochen! Nach einer Woche Ruhe war er wieder auf den Beinen.“ An einem anderen Tag kam Karmapa auf die Baustelle und sagte: „Heute arbeitet keiner!“ Alle waren erstaunt, aber niemand hatte etwas gegen eine kleine Verschnaufpause angesichts der anstrengenden Arbeit einzuwenden. Am gleichen Tag gab es einen riesigen Erdrutsch.[6] Lama Tönsang: „Diesmal war der gesamte Hang mitsamt den Bäumen abgerutscht, die noch immer aufrecht standen, sodass die Baustelle also gewissermaßen einem bewaldeten Garten glich, der die ganze Plattform bedeckte. Wäre das während wir arbeiteten passiert, hätte auch der Aufseher nichts mehr geholfen, wir wären alle von der Erdlawine begraben worden. Doch so hatte uns der Erdrutsch viel Arbeit erspart. Danach war für uns alles ganz einfach, wie mussten nun nur noch die Bäume und ein paar Steine wegschaffen.“[7] Obwohl man keine Maschinen hatte, dauerten die Erdarbeiten kaum eineinhalb Jahre. Am 16.6.1964 legte der neue König von Sikkim Pälden Thöndup Namgyal während einer großen feierlichen Zeremonie den Grundstein für das Kloster und Yishin Norbu segnete das Gelände.
Der eigentliche Bau des Klosterkomplexes
„Welches Projekt auch immer ihr in Angriff nehmt, denkt in großen Dimensionen und setzt euch mit aller Kraft für es ein. Geht die Sache einfach an und so werdet ihr sie erfolgreich zu Ende führen.“ Der 16. Gyalwa Karmapa
Sherab Gyaltsen Rinpoche: „Danach begann Karmapa mit dem eigentlichen Bau des Klosters. Das Ausheben der Erde und das Gießen des Fundaments hatten sehr lange gedauert, aber für den Bau des Klosters selbst brauchte man erstaunlicherweise nur weniger als ein Jahr. Viele Tibeter, die in der Umgebung wohnten, halfen ohne Bezahlung. Sie bekamen ihre Mahlzeiten vom Kloster. Die Zimmerleute und andere Handwerker aus der Gegend wurden hingegen entlohnt. Obwohl wir nur tagsüber arbeiteten, konnte man auch nachts Baulärm hören. Wenn wir nachschauten, sahen wir nichts, aber wir hatten das Gefühl, dass da jemand nachts Seiner Heiligkeit half, schließlich waren wir so wenige Arbeiter und wurden dennoch so schnell fertig. Ich glaube, Karmapa war der einzige, dem es gelang, in diesen schweren Zeiten ein solches Kloster zu erbauen.“[8] Sikkim war damals ein sehr traditionelles Land, in das technische Neuerungen nur langsam Einzug hielten. Große Teile des Landes waren weder mit Straßen zu erreichen noch ans Stromnetz angeschlossen. Selbst der König besuchte seine „Untertanen“ in ihren Dörfern ein bis zwei Mal im Jahr zu Fuß. Auch der kleine Ort Rumtek verfügte damals weder über Elektrizität noch eine Zufahrtsstraße, sondern war nur durch einen steilen Maultierpfad zu erreichen. Der nächste befahrbare Weg befand sich etwa zehn Kilometer entfernt. Auch wenn die Regierung umgehend den Bau der nötigen Infrastruktur veranlasste, mussten während der Arbeiten am Rohbau Beton und Backsteine auf Maultieren herbeigeschafft werden. Dank des enthusiastischen Engagements aller Beteiligten konnte am 21. Februar 1966 Pal Karmapa Densa Shedrup Tschökhor Ling, der Sitz des Gyalwa Karmapa, Zentrum für die Lehre und Meditation des Dharma, feierlich eingeweiht werden. Trotz der beschränkten Mittel war es Karmapa gelungen, ein Kloster zu bauen, das in baulicher Qualität und Schönheit seinesgleichen sucht, und – ganz im Gegensatz zu den Bauwerken des Klosterkomplexes jüngeren Datums – selbst das schwere Erdbeben, das Sikkim 2011 heimsuchte, völlig unbeschadet überlebte.[9] Nachdem das Klostergebäude fertiggestellt war, brachte man in einer feierlichen Zeremonie die aus Tibet geretteten Texte, Ritualgegenstände und Statuen ins Kloster und begann mit der Ausstattung des Tempels.