Im zweiten Band war nur Platz für einen Ausschnitt der Erzählung von John Welwood: "Buddha-Natur in Disneyland entdeckt" (Ja, ich musste leider hie und da kürzen, da das Buch nicht dicker als 420 Seiten werden sollte). Hier der ganze Text, in einer Übersetzung von Wolfgang Jünemann aus dem Magazin "Middle Earth", Nr. 12, 1977.
Disneyland ist eigentlich nicht der Platz, an dem man erwarten würde, etwas über die Beziehung von Samsara und Nirvana zu lernen, die Welt, der Erscheinungen und die Welt erwachter Einsicht. Aber dann war mein erster Besuch dort ganz und gar nicht gewöhnlich: Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, Disneyland in Gegenwart Seiner Heiligkeit des 16. Gyalwa Karmapa und seiner Gefolgschaft tibetischer Lamas und Mönche während seiner Reise durch Kalifornien zu erleben. Seine Heiligkeit ist Oberhaupt der Kagyu- Tradition des tibetischen Buddhismus und einer der großen Spirituellen unserer Tage.
Seit den sechziger Jahren, als lächelnde, bärtige Männer in weißen Roben die Botschaft des „love-and-light“ und „all-is-one“ verkündeten, habe ich mich über sogenannte Heilige allgemeinhin eher zynisch geäußert. Der Ausdruck „Seine Heiligkeit“ tat mir in den Ohren weh, – bis ich ihm selbst begegnete und erkannte, daß es keine andere Anrede gab, die ihm gerecht wurde. Seine Heiligkeit hat mit unseren stereotypen Vorstellungen vergeistigter ehrfürchtiger Frömmigkeit oder verzückter Jenseitsgerichtetheit nichts zu tun. Er ist viel erfrischender – eine erwachte und gleichzeitig geerdete Lebendigkeit ohne erkennbare Grenzen oder Beschränkungen. Um es einfach auszudrücken, er ist das machtvollste und erleuchtetste Wesen, dem ich je begegnet bin. Allein durch seine Gegenwart spricht Erleuchtung, ohne dass er jemals dieses Wort aussprechen muss.
Irgendwie übersteigt er alles vorstellbare und flutet er über alles hinweg, was du über ihn denken kannst. Das ist seine Macht über dich. Seine zwingende Gegenwart ist eine Aufforderung, deine Vorstellungen darüber, wer und wie du bist, aufzugeben. Sein Lächeln durchbohrt alles, woran du verhaftet bist. Ich war überrascht und ein wenig entsetzt, als ich am dritten Tage seines Aufenthaltes in Los Angeles hörte, dass seine Heiligkeit Disneyland nicht nur besichtigen sondern den ganzen Tag dort verbringen wollte. Ursprung meines Unbehagens war ein alter Beschluss, Disneyland niemals zu betreten – diesen Ort, der für mich und viele meiner Generation eine Metapher für das geworden war, was an Amerika das Schlimmste ist: In dem Tumult und der Aufregung beim Vorbereiten des Ausflugs fiel mein altes Gelöbnis jedoch dem Untergang anheim. Als die Fahrzeugkolonne mit seiner Heiligkeit und Gefolgschaft über die Schnellstraßen Los Angeles' nach Anaheim rauschte, war mir wegen des bevorstehenden Tages etwas beklommen und unwohl zumute. Ich fragte mich, wie wohl diese Tibeter, die in ihrem Heimatland niemals auch nur eine Teerstraße gesehen hatten, diese Autobahnkultur, die endlosen Kilometer Beton nach allen Richtungen hin erlebten. Und ich fragte mich, wie sie sich den Ort vorstellten, wohin wir unterwegs waren. Wir hatten am Vorabend versucht, den Mönchen mit Stapeln von Comic-Heften einen Vorgeschmack zu geben, aber das hatte sie, glaube ich, nicht sonderlich beeindruckt.
Disneyland hatte sich auf Seine Heiligkeit eingestellt. Als wir ankamen, wurde ein großes Tor aufgestoßen und die ganze Gesellschaft wurde willkommen geheißen und hineingeleitet. Hostessen und besonderes Betreuungspersonal mit in der Sonne strahlendem Zahnpasta-Lächeln eskortierten uns zum Rathaus von Disneyland, wo Mickey Mouse und Kohorten Seine Heiligkeit aufs Herzlichste begrüßten. Schnell bildete sich eine kleine Menschenmenge und er wurde hineingeleitet, um sich unter großem Hallo und Fotografengewimmel ins Goldene Buch einzutragen. Dies war erst der Anfang der königlichen Aufnahme, die Disneyland uns den ganzen Tag über gewährte. Wie mir bewußt wurde, geschah dies wegen der hohen politischen und diplomatischen Position des Karmapa – da aber diese politische Stellung in Tibet auch seinen spirituellen Rang impliziert, ihm sogar untergeordnet ist, sah es so aus, als anerkenne und würdige Disneyland die Sphäre des Geistes (so wie es der Bürgermeister Bradley, das Police Department von Los Angeles und andere Berühmtheiten und Würdenträger es die ganze Woche über getan hatten.) Etwas Merkwürdiges und Spannendes schien sich hier an diesem Schnittpunkt von Realitätsebenen abzuspielen. Innerhalb weniger Stunden wurde ein beträchtliches Gebiet abgeklappert. Dieser 54-jährige, der die Energie besitzt, ohne Zeichen von Ermüdung tausende von Menschen innerhalb von zwei Stunden einzeln zu segnen, eroberte Disneyland im Sturm. Die strahlende, so ganz amerikanische Hostess hatte eine Auswahl der Höhepunkte vorgesehen und führte uns durch jedes besondere Spektakel, angefangen von der Dschungel-Kreuzfahrt bis zum 360-Grad-Film von „America The Beautiful.“ So wie überall, wo er geht und steht, erzeugte Seine Heiligkeit eine eigene Sphäre um sich herum. Die Tibeter setzten mit ihren weinroten Gewändern einen farbigen Streifen zwischen die Touristenschwaden, welche sich vor ihnen auftaten und zerstäubten.
Seine Heiligkeit bildete die Spitze einer schlangenähnlichen Prozession, deren gewundener Körper durch Gruppen von Mönchen und Schülern gebildet wurde, die in unterschiedlichem Abstand folgten. Die Nachhut der Mönchsprozession schwenkte in alle Richtungen, um die Fauna und Flora am Wegesrand zu examinieren, und des öfteren mußte die Gesellschaft eine Pause einlegen, um ei nen vom Wege gekommenen Mönch vor der Verlockung eines Cowboyhut-Standes oder eines Popcornverkäufers zu bewahren. Mittags nahmen seine Heiligkeit und die Mönche im Disney-Hotel ein Mahl ein.
Seine Heiligkeit und die Mönche amüsierten sich allem Anschein nach sehr gut. Sie konnten sich den Vergnügungsfahrten mit kindlicher Ungezwungenheit und Freude überlassen, um die ich sie beneidete. Ich fragte mich noch immer, wie sie die Dinge erlebten und wie sie den ganzen Platz einschätzten. Es war einfach nicht zu sagen. Mir erschien es wie ein entfernter Anklang vom Bild eines grimmigen Mahakala oder einer anderen zornvollen Gottheit, auf dem Körper des Ego in einem Kreis reinigender Flammen tanzend, oder von einem angeschwollenen hungrigen Geist mit der nicht zufriedenstelIenden Begierde nach allem, was er nicht hat, bis hin zu den Gespenstern der Cartoon-Welt und Skeletten aus Disneys Spukhaus - aber derartige Betrachtungen schienen die Tibeter kalt zu lassen.
Eine wichtige Station nach dem Mittagsmahl war das "verzauberte Tiki Haus", eine von der Dole Pine apples Fa. gestiftete polynesische Hütte, die über und über mit künstlichen singenden und sprechenden Vögeln ausgestattet war. Seine Heiligkeit ist für ihre Zuwendung zu Tieren – besonders für Vögel – bekannt. Der Tiki-Raum stellte mich wieder auf eine harte Probe. Ich erwartete irgendwie, daß Seine Heiligkeit in Abscheu und Empörung über all den künstlichen Plastikkram ausbrechen würde, besonders als die Vögel in die schmalzige Melodie „Let's all sing like the birdies sing, tweet tweet, tweet tweet tweet ...“ verfielen. Aber er schien es zu mögen – ich und die anderen Amerikaner dagegen krümmten uns in unseren Sesseln oder suchten nach dem Ausgang.
Auf dem Weg aus dem Park machte Seine Heiligkeit an einer der Vorbauten der Hauptstraße eine Pause und ein Mönch reichte ihm aus der Thermosflasche tibetischen Tee. Schnell bildete sich eine kleine Menschenansammlung um die Veranda und jemand fragte mich: „Was ist denn das?“
„Sie meinen wohl: Wer ist das?“ fragte ich meinerseits.
„Naja, was ist das?“ beharrte der andere. Mir wurde klar, daß er annahm, Seine Heiligkeit gehöre zum Programm von Disneyland. „Ein sehr hoher tibetischer Lama“ sagte ich so knapp als möglich.
„Oh“ war die enttäuschte Antwort, bei der sich der Schaulustige abwandte und – durch diesen Realitätseinbruch in seinem Disneyaufenthalt etwas irritiert – davonschlurfte.
Auf einer Bank am Town Square nahe dem Haupteingang Disneylands sitzend und auf die Abfahrt Seiner Heiligkeit wartend, fühlte ich mich heiter und erschöpft, doch auch auf angenehme Weise aus dem Gleis geworfen. Ich hatte die Orientierung verloren. Wir Amerikaner sind Gefangene einer Welt, die so viel mit versteckten Bildassoziationen umgeht, durch Verpackung und Konsum geprägt ist, dass wir die Dinge kaum noch so wahrnehmen können, wie sie sind. Was wir anstelle dessen sehen, sind Bedeutungsfelder um die Dinge – Bilder der Medien; was man uns ein- und aufgeredet hat; unsere Vor stellung, wie wir reagieren sollten und nicht die Dinge selbst. Wir haben unseren direkten und unmittelbaren Sinn dafür verloren, was ist, wie Dinge ihrem eigenen Wesen nach und nicht durch die Chiffrensprache unserer Zivilisation vermittelt sind. Disneyland ist eine hochentwickelte Form dieser Chiffrenwelt. (…) In Reaktion gegen alles, wofur Disneyland steht, hatte ich mich dem Buddhismus zugewandt. Und doch war ich jetzt mit der höchsten Verkörperung buddhistischer Lehre im Land der Mickey Mouse, dem letzten Ort, an dem ich mir vorgenommen hätte, einen Tag mit einem lebenden Buddha zu verbringen. Darüberhinaus amüsierte er sich köstlich. In jedem Falle ließ sein durchdringendes Lächeln sogar hier in Disneyland auf das Entdecken der Buddha-Natur schließen.
Der Abend neigte sich und in all den Läden und Straßen flammten die Lichter auf. Die Ereignisse des Tages hatten mich ermüdet und ungeduldig wartete ich auf den Auf bruch. Aber Seine Heiligkeit verweilte noch etwas und tauschte Geschenke mit den Gastgebern aus, die seine Welt genauso zu erfreuen schien wie ihn die ihrige. Sie bedachten die Mönche mit Disneyland-Souvenir-Büchern und Seine Heiligkeit mit "The Story of Walt Disney". Seine Heiligkeit vermachte dafür Disneyland einen Band über tibetischen Buddhismus in Amerika.
Einige der Mönche stöberten in den Läden um den Platz herum, während andere mit Goofy ihre Show abzogen. Seine Heiligkeit erstand ein paar Luftballons und schrieb etwas darauf. Als er sie in den Abendhimmel weg schweben ließ, schien mir, als habe auch in meinem Inneren etwas los gelassen.
John Welwood war Spezialist für östliche und westliche Psychologie.
Original aus der Zeitschrift NEW AGE, Juni 1977.