Kenneth Green Der Besuch des 16. Karmapa war der evolutionäre Quantensprung
Trungpa pushte stets die Grenzen seiner Schüler. Als ich bei ihm zu lernen begann, dachte ich könne meinen 27 Jahre alten Traum verwirklichen, wie der großen Eremit Milarepa das Leben eines Yogis in der Bergeinsamkeit zu führen. Ich erzählte ihm schon bald nach unserem ersten Treffen im Jahr 1972 davon. Aber ihm schwebte etwas ziemlich anderes vor und antwortete lachend: „Ich glaube nicht, nicht dieses Mal. Es gibt viel zu tun, wir müssen uns die anderen widmen, und eine Welt schaffen, die sie mit einer erleuchteten Gesellschaft vertraut macht. Deswegen sind wir hier!“ Im folgenden Jahr gründete Rinpoche die Vajradhatu-Organisation, die diesem Ziel dienen sollte. Rinpoche machte mich zum Direktor der Internen Beziehungen mit dem Titel Nangsi Kalon, was er als „Im Inneren des Universums“ übersetzte. Wir machten darüber Witze. Noch spaßiger war das Büro für Außenbeziehungen, das für alles „außerhalb des Universums“ zuständig war. Er organisierte seine Organisation eher als Mandala und weniger als Unternehmen. Gleichzeitig erklärte er, ich solle nicht vergessen, dass das „Zentrum die Peripherie und die Peripherie das Zentrum“ sei. Es war wie ein riesiges Ufo, dessen Mutterschiff aus dem Himmel zu uns kam. Er lud uns ein, an Bord zu gehen. Es war ein sakraler Bereich, ebenso in seinem wachen Chaos als auch in seiner Qualität als Leichenfeld. Die Sache wurde von einem säkularen Dharma-Mandala inspiriert, er hatte die Vision einer erleuchteten Gesellschaft, die sich im Laufe der Zeit zu einem Makrokosmos eines erleuchteten Königreiches entwickelte, einem, das das legendäre Königreich Shambhala immitierte. Es wurde sowohl von dem tibetischen Kriegerkönig Gesar von Ling, dem alten indischen Kaiser Ashoka, dem Chinesischen Kaiser Yung Lo und dem japanischen Prinz Shotoko inspiriert, die allesamt verwirklichte Führer waren. Rinpoche führte die Idee der natürlichen Hierarchie ein, die vom „edlen Herzen“ genährt war. Dies war eine ziemlich gewagte Aufgabe für seine damaligen Schülerinnen und Schüler, von denen die meisten selbstbefangene von sich recht eingenommene Hippies waren, wobei sie andererseits nicht an das Establishment gebunden waren und leidenschaftlich nach innerer und äußerer Veränderung suchten. Entsprechend waren wir mehr als offen für seinen Rat und seine Lehren – und vor allem seinen Segen. Aus dem Raumschiff kam eine Kraft, die die Entwicklung von uns Dinosauriern stark beschleunigte. Vor dem US-Besuch von Seiner Heiligkeit verstanden die meisten von Rinpoches Schülern nicht den Sinn und Zweck einer Übertragungslinie bedeutete. Einige wenige Glückliche hatten Zeit mit Meistern anderer Traditionen Zeit verbracht. Die meisten waren aber Hippies, die noch keinen Kontakt mit einer Linie gehabt hatten. Die Gemeinschaft war ziemlich unelegant, irgendwie wild, aber gleichzeitig intelligent und ehrlich. Zuvor kam es den meisten seiner Schüler nicht seltsam vor, ihn Choggie [von Chögyam] zu nennen, und, z.B. wenn sie ihm gegenüber saßen, die Füße hochzulegen. Während den Vorbereitungen von Karmapas Besuch erklärte Rinpoche, dass Seine Heiligkeit als Kopf der Linie jemand sehr besonderes sei, es sei der Besuch eines Königs und wir müssten unsere Welt in einen Palast verwandeln. Wären wir Engländer gewesen, uns hätte dieser Hinweis auf das Königliche etwas gesagt – nicht jedoch in den USA. Allerdings hatten wir alle Hingabe zu Rinpoche und taten entsprechend, um was er uns bat. Auch war es aufregend und machte Spaß, unser Zentrum herauszuputzen. Wir malten sogar das Prajñāpāramitā-Mantra in goldenen Lettern auf die Täfelung rund um den Meditationsraum. Er zeigte uns, wie man Fahnen gestaltet und herstellt, tibetische Throne baut und sogar, wie man tibetische Suppen kocht (obwohl er ein Mahāsiddha war, hatte er kein Problem damit, zu kochen). Wir mieteten eine riesige und noble Villa, die wir Wedding Cake House tauften und deren Wände wir mit Satin verkleideten. Wir trieben in den Second-Hand-Läden Denvers alte Stühle und Möbel auf, die wir instand setzten, sodass sie wie wahre Antiquitäten wirkten. Über viele Wochen schliefen wir kaum und hatten schließlich an die kleinsten Details gedacht, die man sich vorstellen kann. Rinpoche griff auf alte und neue Fähigkeiten zurück und solche, die noch erfunden werden mussten, von Schneidern über Schreiner, Übersetzer und Vergolder bis zu Graphikern usw. Die offensichtlichste Veränderung zeigte sich allerdings in unserem Äußeren: Wir schnitten die Haare, kauften Anzüge, Kleider, Schlipse, es war eine komplette Rosskur. Rinpoche lehrte uns nicht nur die westlichen Etikette, sondern auch die tibetischen, einschließlich dessen, wie man sich im Beisein eines Buddha zu benehmen hat. Wir studierten und praktizierten nicht mehr mit einem einzigen Lehrer, sondern wurden plötzlich in das Mandala einer Linie eingeführt und eingeladen, dessen Tradition über Jahrtausende zurückreichte. Wir waren bereit, den König zu empfangen, waren auf den Yidam vorbereitet. Vor dem Besuch von Seine Heiligkeit war die Linie ein Konzept, die wir nur aus den Worten der Liniengebete und den Geschichten über ihre Meister kannten. Als Sangha hatten die meisten von uns keine Ahnung, was Linie wirklich bedeutete, denn wir hatten die Kraft der lebendigen Übertragung noch nicht erlebt. Eine Person, selbst wenn es ein Mahāsiddha wie Rinpoche war, macht noch keine Linie aus. Als Seine Heiligkeit kam, war dies eine Erfahrung, die uns demütig werden ließ, denn wir sahen, wie respektvoll Rinpoche sich ihm gegenüber verhielt. Seine bescheidene Körpersprache, die Art, wie er die Hände hielt, seinen Kopf in seinen Schoß legte und Tränen der Freude vergoss.... Ein wichtiger Punkt war auch, dass er – ganz im Kontrast zu den Vorbereitungen, die uns Rinpoche machen ließ – dennoch Zweifel an der Verwirklichung von Seiner Heiligkeit äußerte. Er sagte: „Ich bin keinesfalls sicher, dass Karmapa voll verwirklicht ist... Manche Tulkus haben nicht die Zeit oder die Gelegenheit, an die Verwirklichung ihrer früheren Leben anzuknüpfen.“ Es war kein Automatismus. Bis zum Augenblick, als Rinpoche Seine Heiligkeit in New York auf dem Rollfeld des JFK-Flughafens begrüßte, hatte er gemischte Gefühle. Doch diese lösten sich in diesem Moment gänzlich auf. Aus seinen vorherigen wiederholten Kommentaren, der Besuch sei „kein großes Ding“ (und das trotz all der riesigen monumentalen Vorbereitungen) wurde ein freudiges: „Er ist vollkommen verwirklicht!“ Plötzlich war es die wirklich ganz große Sache. Die Einladung und der anschließende Besuch von Seiner Heiligkeit dem 16. Karmapa war der evolutionäre Quantensprung. Wir bauten das Haus, aber Seine Heiligkeit stellte den Strom an. Natürliche Hierarchie, Linie und Segen waren nicht länger eine abstrakte Vorstellung, sondern wurden lebendige Realität. Seine Heiligkeit ermächtigte unsere Welt. Es war ein sich selbst antreibender kosmischer Reaktor, den man einschaltete. Das Zentrum wurde Peripherie und die Peripherie das Zentrum. Als Rinpoche starb, verließ uns auch das Mutterschiff, aber der spürbare Segen von ihm und Seiner Heiligkeit blieb. Geschichten Werner Erhard und das EST-Training Werner Erhard, der Gründer des EST-Trainings (ein New Age Ansatz, der auf das menschliche Potential rekurriert), hatte Seine Heiligkeit eingeladen, bei seinem zweiten Besuch seinen Schülern die Schwarze Krone zu zeigen. Die Sache fand im geschichtsträchtigen Masonic Auditorium in San Franzisco. 3.000 vorwiegend seiner Schüler kamen, und auch eine Handvoll von Rinpoches Schülern waren anwesend. Erhard kam mit ihm auf die Bühne und gab eine Einführung, die hauptsächlich davon handelte, wie er diesen großen Lama aus dem Osten gefunden und ihn in die USA gebracht hatte (was jeglicher Wahrheit entbehrte). Trungpas Schülern entging natürlich nicht, dass ihrem Lehrer dieses Gehabe ganz und gar nicht gefiel. Er begann Zeichen der „schwarzen Luft“ zu zeigen – etwas, was nur geschah, wenn er extremem spirituellen Materialismus begegnete. Rinpoche gab kurze Erläuterungen zur Meditation, der Übertragungslinie und zu Respekt. Das eigentliche Debakel ereignete sich, als Erhard Seine Heiligkeit vorstellte. Es erinnerte an die Szene aus dem berühmten Film von 1933, wo King Kong, in Ketten gelegt, dem Publikum eines Broadway-Theaters vorgestellt wird, wobei es heißt: „Ladies and Gentlemen, ich präsentiere Ihnen das achte Weltwunder.“ Natürlich sagte Erhard „Ladies and Gentlemen, ich präsentiere Ihnen Seine Heiligkeit den Gyalwa Karmapa“, aber es wirkte wie eine Zirkusnummer. Trungpa blickte wütend drein. Beide verließen die Bühne, aber Trungpa kam zurück und rief wütend: „Hören Sie auf zu applaudieren, seien Sie still, nur keine Aufregung!“ Er wurde unmittelbar zornvoll wie Mahakala. Und alle wurden ruhig. Seine Heiligkeit kam mit seinen Mönchen und zeigte die Schwarze Krone. Der ganze Raum veränderte sich umgehend: Von einem Saal, gefüllt mit einem ungestümen Publikum in einen riesigen Tempel voller aufnahmebereiter Menschen. Wohin auch immer Seine Heiligkeit auf seiner Reise durch die USA kam, Trungpa war immer in seiner Nähe und sorgte dafür, dass er angemessen behandelt wurde. Trungpa zähmte die Wilden und inspirierte sie, sich anständig zu verhalten. Doch dieser besondere Abend stach als extremes Beispiel heraus. Dies stand in starken Kontrast zu der Schwarzen-Kronen-Zeremonie, die Seine Heiligkeit in Fort Mason 1974 gezeigt hatte. Dies war ein früherer Armeestützpunkt, das von drei Seiten von der Meeresbucht umgeben war. Es war ein bezauberndes Setting für die Zeremonie. Es müssen annähernd fünftausend – wenn nicht sogar mehr – Menschen anwesend gewesen sein. Wie üblich kam jeder zu einem individuellen Segen zu Seiner Heiligkeit nach vorne. Es dauerte Stunden. Ein Ereignis ist mir besonders lebhaft in Erinnerung: Als Seine Heiligkeit mit dem Segen fertig war, fragten die anwesenden Polizisten, die zur Sicherheit vor Ort waren, ob sie auch einen Segen bekommen könnten. Es waren hartgesottene, mit allen Wassern gewaschene irischstämmige Cops. Doch als sie zum Thron kamen, wurden sie respektvoll – fast wie kleine Jungs, die zur Kirche gehen. Sie waren sicherlich Katholiken, denn für sie schien das Ritual nichts Befremdliches zu haben. Seine Heiligkeit, der ganz eindeutig von den Stunden des Segens Zeichen der Ermüdung zeigte, lebte auf und wirkte so erfreut, sie zu sehen. Er widmete ihnen mehr Zeit, als sonst irgendjemandem. Wieder einmal hatte Seine Heiligkeit die Welt erleuchtet. Heilung Ich litt damals an einer sehr schmerzhaften Krankheit, der Nesselsucht, die kam und ging, aber unter Stress stärker wurde. Während der anstrengenden Vorbereitungen von Karmapas Besuch brach sie erneut aus. Als er ankam, waren sie in voller Blüte. Trungpa Rinpoche riet mir, ihn um Hilfe zu bitten, also gingen wir gemeinsam zu ihm. Er war in seinen Privaträumen, umgeben von einigen seiner Mönche. Trungpa erklärte die Sache, und Karmapa nahm seine Mala, schloss die Augen, und sang mit tiefer Stimme. Nach einigen Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, sprach er mit Rinpoche, der mir erklärte, ich müsse meine Kleider ausziehen. Ich trug Anzug und Schlips. Ich begann, ungeschickt und schüchtern, mich auszuziehen, erst der Schlips, dann das Hemd. Seine Heiligkeit deutete auf meine Hose, Rinpoche sagte grinsend, ich solle auch sie ausziehen, und anschließend sogar die Unterhose. Ich fand mich völlig nackt vor Seine Heiligkeit wieder. Rinpoche kicherte. Mir war es peinlich, es brachte mich aus der Fassung. Karmapa machte ein kurzes Ritual, sang Mantras, verbrannte eine Kräutermischung, und sagte, ich solle nah zu ihm kommen und pustete den Rauch der verbrennenden Kräuter auf meinen Körper, vom Kopf bis zu den Füßen und alles dazwischen. Ich sah zu, dass ich mich schnell wieder anzog. Rinpoche lachte die ganze Zeit. Als die Behandlung vorbei war, ging ich mit Rinpoche heraus. Er fragte mich: „Wie geht’s Dir?“ „Ich bin in Hochstimmung!“ Wenige Stunden später waren die Nesselsucht weg – einfach weg. Die Verbindung zu den Hopis Ich selbst war nicht dabei, als Karmapa die Hopis traf, aber am meisten beeindruckten mich die Erzählungen über die starke Synergie/Verbundenheit zwischen Karmapa und den Stammesältesten. Seine Heiligkeit hatte den Wunsch geäußert, die amerikanischen Ureinwohner zu treffen, und wollte besonders die Hopi besuchen. Vor Ort wollte er eine bestimmte Medizinfrau treffen, um mit ihr weitere Prophezeiungen zu teilen, und so ermöglichte man das Treffen mit Grandmother Caroline, die als eine der weisesten Medizinfrauen galt. Nach den Berichten von diesem Treffen war es ein tiefer Austausch. 1983 reiste ich auf Rinpoches Anregung mit meiner Frau und meinen beiden Kindern zu den Hopi, um die „legendäre“ Frau zu treffen. Rinpoche bat mich, herauszufinden, was sich bei dem Treffen zwischen Karmapa und ihr zugetragen hatte. Im Hopiland sagte man uns erst nachdem wir erklärten, wir seien mit Seiner Heiligkeit Karmapa verbunden, wo sie lebte. Als wir bei ihr auf der Middle Mesa ankamen, war sie nicht zu Hause. Nach einer Weile kam eine ältere, zierliche und bescheidene Frau, die mit ihren Einkaufstaschen den Berg hinaufgelaufen war. Sie fragte: „Was kann ich für Sie tun?“ Wir nannten Karmapas Besuch als Grund und sie bat uns in ihr sehr einfaches Lehmhaus. Sie servierte uns Tee, und als wir sie nach ihrem Treffen mit Karmapa fragten, war ihre Antwort leichtherzig und dennoch tiefgründig: Sie fragte uns, ob wir Orson Welles Dokumentarfilm The Man Who Saw Tomorrow gesehen hätten, der von Nostradamus‘ Prophezeiungen handelte. Zufällig hatten wir ihn uns gerade vor der Abreise angeschaut. Sie erzählte anschließend, dass Seine Heiligkeit Karmapa wissen wollte, ob die Hopi-Prophezeiungen denen der Tibeter ähnelten, und sie kamen zu dem Schluss, dass dies so war. Sie stimmten, so Grandmother Caroline, auch mit denen von Nostradamus überein. Sie erklärte, dass wir uns damals nach dem Verständnis der Hopi dem Ende der vierten Welt näherten, was den Beginn der fünften ankündigte. Niemand wisse, wann das geschehe, aber es sei wahrscheinlich bald soweit. Sie erklärte weiter, dass die Zeichen dafür sehr eindeutig seien. Eines davon sei beispielsweise Folgendes: Als sie noch jung war, sammelte sie noch wirkungsvolle Kräuter in den Bergen der San Francisco Mountain Range [im Südosten des alten Hopilands, das von Colorado bis Kalifornien reichte]. Heute findet sie dort nur noch giftige Pflanzen. Dies erzählte sie Seiner Heiligkeit, der ihr dann von den tibetischen Prophezeiungen berichtete. Sie wiederholte: „Sie stimmen überein!“ Zurück in Boulder erzählte ich Rinpoche davon, der erwiderte: „Wir sind uns alle einig. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns!“