Der junge 16. Karmapa 1931
Suche nach dem Prophezeiungsbrief
Viele der früheren Karmapas hinterließen noch zu Lebzeiten Hinweise auf ihre nächste Geburt, mal in mündlicher und mal in schriftlicher Form. Der 15. Karmapa indes war der einzige, der gleich zwei Hinweisbriefe hinterließ: den ersten, als er lebensbedrohlich erkrankt war, allerdings bald wieder gesundete, und einen zweiten, den er im Jahr 1921 kurz vor seinem tatsächlichen Parinirvāṇa in seinem Hauptkloster Tsurphu schrieb. Letzteren vertraute er seinem persönlichen Sekretär, Djampäl Tsültrim an, und bat ihn, niemandem von dem Schriftstück zu erzählen und es erst „wenn die Zeit reif“ sei anderen zu zeigen.
Bald nach Karmapas Parinirvāṇa verließ Djampäl Tsültrim das Kloster Tsurphu. Sein Ziel war Golok, eine Region im äußersten Nordosten Tibets, das ein bis zwei Monatsmärsche entfernt lag. Hier wollte er die nächsten Jahre verbringen. Die Zeit verstrich, und die Schüler des Karmapa sehnten sich danach, die Wiedergeburt ihres Meisters zu finden. Aber nicht nur die Schüler interessierten sich für dessen Aufenthalt: 1930, also acht Jahre nach dem Parinirvāṇa des 15. Karmapa, wandte sich die Tibetische Zentralregierung in Lhasa an den Tsurphu Labrang, die Verwaltung Tsurphus, und fragte nach Hinweisen zu Karmapas Wiedergeburt.[1] Natürlich hatte Tsültrim vor seiner Abreise nach Golok den Wunsch von Yishin Norbu respektiert und niemandem von dem Prophezeiungsbrief erzählt. Entsprechend begann man fieberhaft die Gemächer Karmapas nach schriftlichen Hinweisen zu seiner Wiedergeburt zu durchforsten. Man durchblätterte jede einzelne Seite der vielen Bücher in Karmapas Bibliothek und öffnete sogar seine Matratze! Selbstverständlich fand man nichts, denn Tsültrim bewahrte den Brief sorgfältig und unbesorgt in seinem Segensamulett auf, das er stets bei sich trug. Schließlich musste man der Regierung in Lhasa mitteilten, dass die Suche erfolglos geblieben war.
Erst ein Jahr später kam Tsültrim wieder nach Tsurphu auf, wo er Karmapas Generalsekretär das Schriftstück überreichte. Alle waren glücklich, dass man endlich die Hinweise auf Karmapas Reinkarnation gefunden hatte.
Nachricht in der Sprache der Dākinīs
Karmapa soll später einmal gesagt haben: „Je größer die Hindernisse, desto größer der Erfolg!“ Er wusste, wovon er sprach, denn auf der Suche nach seiner Wiedergeburt tauchte schon bald eine weitere Schwierigkeit auf: Der Prophezeiungsbrief war in der Schrift der Dākinīs* verfasst, die gewöhnliche Menschen nicht verstehen! Glücklicherweise war jedoch der erste Beru Khyentse Rinpoche* aus dem Kloster Palpung ihrer mächtig. Man schickte den Brief mit Boten zu ihm nach Kham (Ost-Tibet). Da er aber fast zwei Monatsreisen zu Pferd von Tsurphu entfernt lebte, verzögerte sich dadurch die Auffindung erneut. Khyentse las den Brief. Voller Freude, im Brief so klare und eindeutige Hinweise auf Karmapas Wiedergeburt zu finden, rief er aus: „Jetzt hat sich der Zweck meines Lebens erfüllt!“ Dies zeigt, welch immensen Respekt er – immerhin einer der größten Meister seiner Zeit – für den Karmapa empfand, einen Respekt, den er mit vielen anderen großen Lamas seiner Zeit teilte.
In der Prophezeiung mit dem poetischen Namen Girlande der verborgenen Bedeutung der Bambusblume, Zierde für die Menschen stand:
"Östlich von hier, in der Nähe des Flusses Serdän, im Distrikt des tapferen Bogenschützen[2], auf einem Berg, der die Form eines Löwen hat und mit Aa und Thub geschmückt ist, steht ein Lehmhaus, das einer adligen und spirituellen Familie gehört. Hier wird er entweder im Ochsen- oder im Mausjahr im Palast des Clans der Tschökar im Bauch einer weltlichen Dākinī geboren. Aus dem weiten Raum der Leerheit, dem alles durchdringenden Ati, wird sich das große Licht zeigen, die Vereinigung von Erscheinung und Gewahrsein, und Rangdjung Rigpe Dordje heißen."[3]
Der 15. Karmapa hatte zwei der größten Karma-Kagyü-Lamas seiner Zeit als seine Linienhalter bestimmt: Den Elften Situpa Pema Wangtschug Gyalpo und den Zweiten Djamgön Kongtrül Khyentse Öser.[4] Beide zählten zu den wichtigsten Lamas des Klosters Thubden Tschökhor Ling, meist Palpung genannt, des größten Klosters der Karma-Kagyü-Tradition in Kham. Diese hatten beide klare Visionen vom Ort, an dem Karmapa wiedergeboren worden war, welche sich mit den präzisen Hinweisen im Vorhersagebrief deckten:[5] Die Zeilen „auf einem Berg, der die Form eines Löwen hat und mit Aa und Thub geschmückt ist“ deuteten eindeutig auf die berühmte Athup-Familie, von der eingangs die Rede war. Da diese im ganzen Land bestens bekannt war, musste man nur Boten entsenden, die mühelos das außergewöhnliche Kind fanden. Alles stimmte mit den Angaben des Briefes überein.[6]
[1] Der damalige 12. Shamarpa war ebenfalls Sohn des 15. Karmapa. Die Regierung hatte aber bereits Jahrhunderte zuvor aufgrund nie bewiesener Anschuldigungen die Inthronisierung der Shamarpas verboten und so kam er nicht als Regent in Frage.
[2] Douglas, White: Karmapa – König der Verwirklicher, a. a. O.
[3] Douglas, White: Karmapa – König der Verwirklicher, a. a. O., S. 109 (die Seitenzahlen beziehen sich bei allen Fußnoten auf die englische Ausgabe des Buches).
[4] Mit der neuerlichen Unabhängigkeit Tibets im Jahr 1912 bestimmte die Regierung des 13. Dalai Lama, dass Tulkus aller Schulen von ihr anerkannt werden müssten. Dieses Gesetz war wohlgemerkt rein politischer Natur. Karmapa wird der Tradition nach innerhalb der Karma Kagyü Schule anerkannt.
[5] Denkhog, das Land des tapferen Bogenschützen von König Gesar (6./7. Jh.).
[6] Tashi Tsering: A Biographical Scetch of the Sixteenth Karmapa, Tibetan Review, August 1992.