Blick in die Zukunft (Auszug aus "Strahlendes Mitgefühl") Es ist schlicht unmöglich sich vorzustellen, in welchem Umfang Karmapa die gewöhnliche Wahrnehmung der Wirklichkeit transzendierte und wie detailliert er über die drei Zeiten* im Bilde war. Dass er genau wusste, was Tibet erwartete, zeigen nicht nur seine Gedichte aus den Jahren 1940 und 1944, sondern auch Begebenheiten wie die folgende: Zurück in Tsurphu besuchte ihn einer der großen Meister seiner Zeit, Dzongsar Khyentse Tschökyi Lodrö*, den er um die Übertragung eines Termas* bat.[1] Nach der Übertragung kamen sie auf die Zukunft Tibets zu sprechen. Dzongsar Khyentse Rinpoche war sich bewusst, dass die Chinesen nichts Gutes im Schilde führten. Sich der grenzenlosen Weisheit Karmapas gewahr, fragte er ihn, ob er in der sehr abgelegen Bergregion Pemakö, unweit der indischen Grenze gelegen, Schutz suchen sollte. Yishin Norbu sinnierte: „Pemakö, Pemakö… Sieht nicht gut aus. Die Berge sind dort zwar sehr schroff und der Fluss schwer zu überqueren, letzten Endes werden die Chinesen jedoch auch dorthin kommen. Das ist, was ich sehe. Rinpoche, Du musst nach Sikkim gehen!“[2] Bezüglich der Zukunft gab es darüber hinaus einige eindeutige äußere Zeichen, wie etwa ein Ereignis, das sich während des Jahres 1956 im Gönkhang, dem Schützertempel Tsurphus zutrug: Blut, so erzählt Tulku Urgyen in seinen Memoiren, tropfte von den Augen der Statue Mahākālas. Karmapa verstand gleich die tiefere Bedeutung dieses Zeichens: „Wie entsetzlich! Wahrscheinlich werden Buddhas Lehren in Tibet verschwinden!“ Zu etwa der gleichen Zeit bat Yishin Norbu Tulku Urgyen, das Land zu verlassen und bereits Vorbereitungen für die Zukunft zu treffen, wenn diese Voraussage Wirklichkeit werden würde: „Schwierige Zeiten werden über Tibet hereinbrechen“, erklärte er ihm, „und ich treffe bereits Vorbereitungen, um die Hälfte der Statuen, Texte und Ritualgegenstände nach Nepal zu schicken!“ Tulku Urgyen solle, so Yishin Norbu, dort ein Kloster gründen, um diese dort sicher aufzubewahren. Aufgrund seiner „Dickköpfigkeit“, so kommentierte Urgyen sein eigenes Verhalten später selbst, kam er dieser Bitte allerdings nicht nach. Mehr Erfolg hatte Yishin Norbu bei Kalu Rinpoche, den er 1955 gebeten hatte, nach Bhutan und Indien zu gehen, „um die Grundlagen für das unvermeidliche Exil vorzubereiten.”[3]
(…)
1958 griffen die bewaffneten Auseinandersetzungen in Kham auch auf Zentral-Tibet über. Angesichts der sich zuspitzenden Lage schickte Karmapa Sangye Nyenpa und die noch sehr jungen Lamas Situpa sowie Djamgön Kongtrül Rinpoche ins sichere Exil. Auch vielen anderen riet er, das Land zu verlassen. Einer von ihnen war der hochverwirklichte Meister Schetschen Rinpoche, den er warnte, er solle umgehend fliehen, da es sonst dafür zu spät wäre. Dieser wandte ein, unbedingt noch ein letztes Mal das Kloster Mindröl Ling besuchen zu müssen. Karmapas Sicht in die Zukunft hätte präziser nicht sein können, als er dem Rinpoche ankündigte, dass er dazu „nicht einen Tag länger als zwei Wochen“ Zeit habe, ansonsten würde er das Land nicht mehr lebend verlassen. Der Meister wurde unterwegs unerwartet aufgehalten und schaffte daher den Weg nicht in der genannten Zeit. Chinesischen Militärs nahmen ihn gefangen und verschleppten ihn nach China, wo er in Gefangenschaft starb.[4] Umgekehrt drängten viele Karmapa, aus Tibet zu fliehen, bevor es zu spät sein würde. Völlig ohne Sorge um sich selbst pflegte er zu antworteten, er wolle solange wie möglich bleiben, um seinen Landsleuten zu helfen: „Noch muss ich das Land nicht verlassen. Aber wenn die Zeit kommt, könnt ihr sicher sein, dass ich keine Schwierigkeiten haben werde.“
[1] Siehe Weblink Übertragungen an Karmapa auf S. webl#.
[2] Tulku Urgyen Rinpoche: Strahlende Vollkommenheit, Manjushrigosha 2016, S. 424.
[3] Kalu Rinpoche: The Dharma that Illuminates All Beings Impartially Like the Light of the Sun and the Moon, State University of New York Press 1986, S. 3. Karmapa begann bereits Jahre vor seiner Flucht, Gönnern aus Kalimpong (Bhajuratna Kansakar und Gyan Jyoti) wertvolle Ritualobjekte und Texte mitzugeben, die sie in Teppichen versteckt auf ihrer Maultierkarawane nach Indien schafften, von wo sie später nach Rumtek gebracht wurden.