Grenzenlose Hellsicht
Immer wieder zeigte Karmapa in ganz alltäglichen Situationen, dass seine Weisheit nicht an Zeit und Raum gebunden war und er weit mehr sah, als unsere gewöhnlichen Augen wahrzunehmen in der Lage sind. Tulku Urgyen Rinpoche erzählt:
„Unterwegs in Ost-Tibet kam Karmapa mit einem Gefolge von neunzehn Reitern durch ein Tal, als sich plötzlich eine kleine Ziege von ihrer Herde trennte. Sie rannte Karmapa so gut sie konnte blökend hinterher und versuchte ihn einzuholen. Yishin Norbu sagte zu seinem Diener: ‚Reite in das Dorf zurück und bitte den Besitzer, mir das Tier zu überlassen.‘“
Nachdem der Diener die Erlaubnis eingeholt hatte, die Ziege zu behalten, fragte er Karmapa: „Wunscherfüllendes Juwel, warum interessieren Sie sich so sehr für das Tier?“ „Erinnern Sie sich an das Waisenkind, das mir vor ein paar Jahren anvertraut wurde und kürzlich starb?“, antwortete Karmapa, „das ist er, der arme Junge! Irgendwie muss er mich wiedererkannt haben! Ich werde ihn eine Weile behalten!”[1] So klar und präzise sah der damals gerade einmal vierzehnjährige Karmapa spontan die früheren Leben anderer… Er schloss die Ziege sehr in sein Herz, überließ ihr seine Sänfte und sattelte selbst auf sein Pferd über.[2]
Rigpe Dordje kam auf seiner weiteren Reise erneut nach Surmang, dem Stammkloster der Trungpa- und Gharwang Rinpoches. tDer Zehnte Halter der Trungpa-Linie war nicht lange zuvor verschieden und man bat Karmapa, seine neue Inkarnation zu finden, was Chögyam Trungpa Rinpoche später schilderte:
„Gyalwa Karmapa hatte eine Vision, (...) die besagte, dass die Wiedergeburt des Zehnten Trungpa Tulku in einem Ort fünf Tagesreisen nördlich von Surmang geboren worden sei: ‚Sein Namen klingt wie Ge und De, und dort lebt eine Familie mit zwei Kindern, der Sohn ist die Wiedergeburt. Die Tür des Hauses der Familie zeigt nach Süden, sie hat einen großen roten Hund. Der Namen des Vaters ist Yesche Dargye und der der Mutter Tschung und Tso; der Sohn, der fast ein Jahr alt ist, ist Trungpa Tulku.’“[3]
Der Sekretär und einige Mönche des Klosters reisten in die beschriebene Gegend. Bei ihrer Rückkehr nannten sie Yishin Norbu die Namen der in Frage kommenden Kinder. Karmapa hatte spontan auch die kleinsten Details der Umstände der Wiedergeburt im Blick. Er erklärte, dass dies nur die Kinder einflussreicher Familien seien, der Tulku aber aus keiner besonders renommierten Familie stamme. Er bat sie, weiter nachzuforschen. Bald fand man einen kleinen Jungen, auf den die Beschreibung des Briefes passte. Nur der Name des angeblichen Vaters war anders als in Karmapas Vision. Schließlich stellte sich heraus, dass nicht er Trungpa gezeugt hatte, sondern der erste Mann seiner Mutter. Yishin Norbu hatte den richtigen Namen genannt, und so fand er nicht nur den Tulku, sondern auch noch dessen Vater! Später erinnerte sich Trungpa Rinpoche an die Ankunft des Suchtrupps: „Das Kind war ich. Ich versuchte zu sprechen, und da sie sich vor mir verbeugten, legte ich meine Hand auf ihren Kopf, denn ich wusste, dass es meine Aufgabe war, sie zu segnen.“[4] In Tibet war es über die Jahrhunderte üblich, es nicht nur bei der Anerkennung eines Tulkus seitens eines Meisters zu belassen, sondern außerdem mit Hilfe eines Tests zu prüfen, ob es sich bei dem Kind wirklich um die gesuchte Reinkarnation handelte. So zeigte man auch dem kleinen Trungpa sowohl einige der persönlichen Gegenstände seines Vorgängers als auch Dinge, die jemand anderem gehörten. Und tatsächlich: Der Dreijährige nahm sofort unbeirrt sein früheres Eigentum an sich und interessierte sich nicht für die anderen Dinge. Alle waren sich einig, dass es sich tatsächlich um die Wiedergeburt des Zehnten Trungpa handelte. Entsprechend inthronisierte ihn Yishin Norbu kurz darauf mit der größten Zeremonie in der Geschichte des Klosters.
[1] Tulku Urgyen Rinpoche, Strahlende Vollkommenheit, a. a. O., S. 284.
[2] Jigme Rinpoche erzählt in seinem Vortrag in Karma Guen, Ostern 2011, dass Ziegen manchmal in seiner Sänfte reisten.
[3] Chögyam Trungpa Rinpoche: Born in Tibet, Alwin 1966, (Neuaufl.: Shambhala 2000), S. 26.
[4] Ebenda, S. 27.