Dzigar Kongtrül Rinpoche: Der 16. Karmapa, Bewahrer der Linie
Der erste Dzigar Kongtrül Rinpoche war eine der fünf Wiedergeburten von Djamgön Kongtrül Lodrö Thaye. Die derzeitige zweite Inkarnation wurde 1964 geboren und sowohl vom 16. Karmapa als auch von Dilgo Khyentse Rinpoche als solche identifiziert und anerkannt. Rinpoche lebt heute in den USA und unterrichtet auf der ganzen Welt. Er leitet die Mangala Shri Bhuti Sangha und deren Organisation.
Für alle von uns, die Seine Heiligkeit getroffen haben, sind die Erlebnisse sehr persönlich und emotional besetzt. Über sie zu reden bringt uns in die Zeit zurück... Ich sah Seine Heiligkeit Karmapa das erste Mal in Bir, als er die von meinem Vater Neten Tschokling gegründete Siedlung und ihr Kloster besuchte. Er gab vielen Menschen Segen und zeigte die Schwarze-Kronen-Zeremonie. Ich war damals vier oder fünf Jahre alt. Die Flucht aus Tibet lag noch nicht lange zurück und die Leute waren noch immer sehr arm. Doch besonders die älteren Tibeter, die zur Kronenzeremonie kamen, hatten eine unglaubliche Hingabe! Sie schenkten Karmapa, was sie schenken konnten und baten ihn, für Kranke, die sie in Tibet zurückgelassen hatten, zu beten. Man konnte die Verbundenheit zwischen meinem Vater und ihm spüren. Ich ging also davon aus, dass Karmapa ein großer Meister und gleichzeitig sein Freund sei und bewunderte sie beide sehr. Sein Besuch war ein großes und aufregendes Ereignis. Interessanterweise sagte er meinem Vater, dass das Land, auf dem das Kloster und die Siedlung errichtet war, kein gewöhnliches Land sei, sondern eine Art Tersar, ein von Padmasambhava versteckter Erdschatz, den mein Vater entdeckt hatte. Ich brachte Karmapa Staunen und Bewunderung entgegen: Auch wenn ich als Kind noch nicht viel vom Dharma verstand, konnte ich regelrecht visuell wahrnehmen, wie besonders er war, und bekam in seiner Gegenwart eine Gänsehaut.
In Rumtek Das zweite Mal sah ich ihn bei den Ermächtigungen, die er 1976 in Nepal gab. Anschließend fuhr ich mit Dilgo Khyentse Rinpoche nach Rumtek. Mein Vater war wenige Jahre zuvor gestorben und sowohl Seine Heiligkeit Karmapa als auch Khyentse Rinpoche hatten seine Wiedergeburt in Bhutan gefunden und wollten sie nun inthronisieren. Ich erinnere mich noch gut, wie ich gemeinsam mit Khyentse Rinpoche in sein Zimmer kam. Dieser war groß wie ein Riese, und da er leicht gelähmt war, brauchte er Hilfe. Ich war damals sein Diener, also stützte ich ihn. Plötzlich stand Karmapa vor uns… Wir überreichten einen Khata. Dann setzten sie sich und ich ging, um Rinpoches Raum vorzubereiten. Doch kurz darauf rief mich ein Mönch mit den Worten: „Seine Heiligkeit möchte Dich sofort sehen!“ Ich dachte, es gäbe irgendein Problem und beeilte mich, zu ihm zu kommen. Es war Mittag. Seine Heiligkeit Karmapa saß auf einem Stuhl und Dilgo Khyentse Rinpoche sowie Djamgön Kongtrül Rinpoche hatten sich vor ihm auf dem Boden niedergelassen. Karmapa lud mich sehr herzlich ein, mit ihnen zu Mittag zu essen. Dann blickte er zu Khyentse Rinpoche und sagte: „Ich glaube, er wird sich wirklich gut entwickeln!“ Ich wusste nicht, was er damit meinte. Dann servierte man das Mittagessen und wir aßen gemeinsam. Kurz darauf inthronisierte Karmapa die Wiedergeburt meines Vaters, die damals drei Jahre alt war. Shamar Rinpoche leitete die Zeremonie, er war der Umdze (Vorsänger) und führte die edle Rede des Rituals. Danach sagte Karmapa zu mir: „Diesmal hat es mit Deiner Inthronisierung nicht geklappt, aber das werden wir später nachholen!“ Er riet mir: „Diene dem Dharma im Allgemeinen, und den Nyingma- und Kagyü-Linien im Besonderen von ganzem Herzen.“ Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen eindrücklichen Augenblick. Seine Heiligkeit Karmapa hatte eine sehr starke und majestätische Präsenz, und man spürte deutlich, dass man in Gegenwart eines Dharmakönigs war. Dilgo Khyentse Rinpoche war eher wie eine alte tibetische Vaterfigur. Beide waren sehr würdevoll und schufen eine wirklich unglaubliche Atmosphäre des Friedens um sich. Man spürte fast unmittelbar, welch große Liebe sie für alle anderen hatten, ganz gleich wer zu ihnen kam. Anschließend fanden die Lama-Tänze statt. Es war ein großes Ereignis. Karmapa saß mit vielen Würdenträgern auf der Terrasse, die den Hof vor dem Tempel des Klosters überragt. Unter ihnen waren die Prinzessin von Bhutan, der Gouverneur sowie der frühere König von Sikkim und viele Lamas. Karmapa war der Gastgeber und hatte eine Art Party mit ihnen, zu der er auch mich einlud. Er war sehr beeindruckend, war wie die Sonne, die schien, strahlte und lachte. Sein kräftiges und ansteckendes Lachen nahm die ganze Umgebung ein. Ich sah ihn als großes Wesen, spürte die Präsenz eines großen Mahāsiddha. Dies war 1979, ich war damals 14 Jahre alt. Anschließend ging ich zur Schule und sah ihn nicht mehr wieder
Die Wiederbelebung des tibetischen Buddhismus, der Kultur und Tradition im Exil Abgesehen von meinen persönlichen Erfahrungen und Empfindungen möchte ich besonders betonen, welche Rolle Karmapa in dieser für alle Tibeter schwierigen und kritischen Zeit spielte, in der die Gefahr bestand, dass die tibetische Kultur und Religion durch die Machtübernahme des kommunistischen Regimes ausgelöscht würde. Karmapa hatte im Exil keine politische Funktion inne. Er kümmerte sich ausschließlich um den Dharma. Nach der Flucht wandten sich alle Tibeter an ihn, insbesondere die Nyingmas und Kagyüs. Dadurch, dass er die tibetische Kultur und Tradition wiederbelebte, sicherte er das Fortbestehen der Linie. Er baute das neue Kloster Rumtek, fand viele Tulkus und bildete sie aus. Er ermutigte viele Lamas, die seines Alters oder älter waren und Tibet verlassen hatten, es ihm gleichzutun, Klöster zu bauen und im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel eine monastische Gemeinschaft zu etablieren. Ich bin der Überzeugung, dass Karmapa bei der Wiederbelebung des tibetischen Buddhismus und besonders des tibetischen Systems der klösterlichen Ausbildung in Studium und Praxis sowohl der Nyingma- als auch der Kagyü-Tradition federführend war. Alle wandten sich an ihn, und baten ihn, die Tulkus zu finden und ihnen Führung zu geben. Der Dalai Lama war damals mit den vielen politischen Veränderungen, die sich abspielten, beschäftigt und tat sein Bestes, von außen Hilfe für die Flüchtlinge zu bekommen, um für sie ein neues Zuhause und eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Der 16. Karmapa hingegen konnte ausschließlich für den Dharma arbeiten, konnte Klöster aufbauen sowie die Mönche, Nonnen, Drupöns* und andere ausbilden. Er war in dieser Hinsicht weit freier. Er kümmerte sich um die alten und neuen Nonnen und Mönche in den Klöstern. Er ermutigte viele Lamas, wie etwa meinen Vater und Khamtrül Rinpoche, mit denen er befreundet war, Klöster zu bauen und das monastische Leben wiederzubeleben. Damals waren die Mittel wirklich sehr begrenzt, alle waren sehr arm; es war nicht wie heute, wo es viele Sponsoren gibt. Die tibetische Gemeinschaft bestand in erster Linie aus Flüchtlingen und man musste die Klöster mit deren Mitteln aufbauen, da es noch nicht sonderlich viel Hilfe von außen gab. Die internationale Hilfe floss mehr in den Aufbau der Siedlungen, diente also säkularen Zwecken und nicht dem Dharma. Die Wiederbelebung der monastischen Gemeinschaften stellte eine große Herausforderung dar. Aber Meister wie Karmapa nahmen kurzentschlossen die ganze Last auf ihre Schultern, versammelten viele junge Mönche und Nonnen um sich und kümmerten sich sowohl um sie als auch um die Älteren. Wenn man schon Probleme hat, für seinen eigenen Unterhalt zu sorgen, dann ist es eine echte Herausforderung, den Kindern Unterkunft und Verpflegung zu geben sowie sie zu erziehen. In Tibet waren Mönche und Nonnen von ihren jeweiligen Familien versorgt worden, aber nach der Flucht nach Indien hatten diese nicht mehr die Mittel dazu – schließlich besaßen sie nicht einmal genug für sich selbst. Zumeist verdienten sie als Straßenarbeiter etc. einen äußerst bescheidenen Lohn. Dem, was die Lamas damals für die Tradition der Studien und Praxis taten, ist es zu verdanken, dass die Klöster, die Shedras und Retreat-Zentren heute funktionieren. Hinsichtlich der Herstellung der Tormas, des Spielens der Instrumente, der Durchführung der Rituale, der jährlichen Drubtschös und Lama-Tänze hat jedes Kloster seinen eigenen Stil und seine eigene Übertragung – Tsurphu unterschied sich von Phalyul oder Drikung etc. All diese Eigenheiten und Details wurden dank des Muts der Lamas dieser Zeit erhalten. Hätten sie sich nicht um die Mönche und Nonnen gekümmert, hätten sie sie nicht ausgebildet und erzogen, hätte man damals gesagt: „Alles ist vergänglich, es macht keinen Sinn, das wiederzubeleben, wir wissen schließlich nicht, was die Zukunft bringt, warum schauen wir nicht einfach, was passiert?“, dann wäre diese Vielfalt verloren gegangen. Aber der 16. Karmapa war eine der führenden Stimmen, die sagte, dass wir vielleicht lange im Exil bleiben würden und wir daher alles uns Mögliche tun müssten, damit unsere Kultur und Religion mit all ihrem Reichtum hier überlebe. Einer der Grundvoraussetzungen hierfür war, dass es eine monastische Gemeinschaft und ein Kloster gäbe, in dem die alten Mönche sie ausbildeten. Da Karmapa, der eine sehr wichtige Persönlichkeit war, zu der alle aufschauten, sie alle so sehr ermutigte, konnte er den Lauf der Dinge stark beeinflussen. Er war eine der wichtigsten Kräfte hinter all dem.
Im Westen Die Leute im Westen brachten ihm großen Respekt entgegen, denn sie spürten seine große Liebe für die Menschen, sein Lachen und Lächeln. Sie respektierten ihn nicht nur, weil er Seine Heiligkeit Karmapa war, die Verkörperung der erleuchteten Qualitäten und Aktivität der Buddhas der drei Zeiten, sondern auch, weil er sie wirklich ganz tief im Inneren ansprach. Es war, als sei man in der Gegenwart eines brüllenden Löwen. Karmapa sprach in ihnen die allen Menschen innewohnende grundlegende Gesundheit an, und sie verstanden, dass sie diese auch in sich selbst zum Vorschein bringen können. Auf diese Weise, so glaube ich, säte er viele Samen, besonders mit der Schwarze-Kronen-Zeremonie. Wenn er sie zeigte, verschob sich etwas, und alles wurde irgendwie heller, es war unglaublich. Viele Menschen haben mir gesagt, dass sie allein dadurch, dass sie der Schwarze-Kronen-Zeremonie beiwohnten, Interesse für den Dharma entwickelten, Zuflucht nahmen und zu Praktizierenden in verschiedenen Linien wurden. Man kann den Dharma mit Worten lehren, aber anfänglich braucht es etwas, das die dicke Wolke der Selbstbezogenheit durchbricht, etwas, das die Blase Samsaras zum Platzen zu bringen vermag, den samsarischen Geist. Genau das geschah durch die Schwarze-Kronen-Zeremonie – und zwar überall. Ich glaube, dass er mit genau dieser Zeremonie ein für alle Mal in Tausenden den Samen der Befreiung gesetzt hat. Und das geschieht sogar noch heute, wenn Menschen die Videos usw. von ihr sehen. Es gibt so viele, die ihn nicht getroffen haben, sondern nur ein Foto von ihm gesehen haben oder einen Traum von ihm hatten, in dem er ihnen eine Dharma-Belehrung gab, und das führte dazu, dass sie sich auf den Dharma ausrichteten. Darüber waren die Betreffenden selbst erstaunt. Es mag unglaublich wirken, aber seine erleuchtete Aktivität geht auf diese Art weiter, auch wenn er physisch nicht präsent ist. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass ein Mensch wie er seine Füße auf diese Erde setzte. Natürlich bestaunt oder bewundert man auch große Politiker, Wissenschaftler oder Persönlichkeiten, die in die Geschichte eingegangen sind, wie etwa John F. Kennedy, der die Kubakrise abwendete oder Albert Einstein, dessen Relativitätstheorie die Physik veränderte. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie Samen der Befreiung gesetzt haben. Doch wenn Menschen vom 16. Karmapa hören, passiert genau dies und das wird in Zukunft Früchte tragen. Seid gute Praktizierende und dient dem Dharma und den anderen Lebewesen so gut Ihr könnt, setzt die Lehren zu Bodhicitta in die Praxis um, nehmt Sie Euch zu Herzen, seid gut, den anderen ein Vorbild, denn das ist es, was wir tun können…