Mary Finnigan: Karmapa und die Hausbesetzer von London
Durch ihren Freund David Bowie kam Finnigan mit dem tibetischen Buddhismus in Kontakt. Heute arbeitet sie als Journalistin und Autorin.
Ich sah den 16. Karmapa das erste Mal bei einer Schwarze-Kronen-Zeremonie in Samye Ling in Schottland. Anschließend gab er im alten Tempel des Zentrums Interviews. Ich hatte damals eine völlige Blockade hinsichtlich des tibetischen Brauchs, sich vor einem Meister zu verbeugen: Mit etwas Überwindung verneigte ich mich zwar in einen Tempel vor einem abstrakten Abbild des Buddha, das vor einem anderen Menschen zu tun, widersprach jedoch diametral der urbanen linken Journalistenkultur, aus der ich stammte. Als ich allerdings zu Karmapa kam, fiel ich auf die Knie und machte – ohne dass es im Geringsten geplant war – drei Niederwerfungen. Es passierte einfach so und ich konnte es selbst kaum fassen. Anschließend setzte ich mich vor ihm auf den Boden. Neben ihm saßen Ato und Akong Rinpoche. Von ihm strahlte etwas außergewöhnliches und außerweltliches aus, nichts annähernd Vergleichbares hatte ich zuvor erlebt – es war eine absolut neue und lebendige Erfahrung. Ich erinnere mich nicht mehr, über was wir uns anschließend unterhielten, aber er hinterließ den bleibenden Eindruck, dass er jemand sei, der überwältigend anders ist. Es war eine absolut neue, lebendige Erfahrung.
Ich bin Journalistin und konnte kurz darauf wieder in Samye Ling ein Interview mit ihm führen und es filmen. Ich hatte eine der ersten tragbaren Videokameras und Karmapa und die Mönche, die ihn begleiteten, waren neugierig, wie diese funktionierten. Während des ganzen Treffens ich in seiner unmittelbaren Nähe. Wieder war ich von ihm völlig überwältigt, denn es von ihm ging eine Art magnetisierende Energie aus, etwas unglaublich Kraftvolles und Strahlendes, Liebevolles, Mitfühlendes und Gütiges. Gleichzeitig war er sehr interessiert. Er schien schlicht alle Qualitäten zu verkörpern, die man sich wünschen kann. Ich empfand ihn als großartig und überwältigt wie ich von ihm war, brachte ich kein Wort heraus. Ich mochte ihn, seine Wärme zog mich an. Er wirkte einerseits normal und nicht abgehoben, und war andererseits dennoch nicht vollkommen von dieser Welt. weder zuvor noch seither habe ich Vergleichbares erlebt,
Karmapa im Karate-Dojo Das nächste Mal traf ich Karmapa in Kentish Town im Norden Londons. Wir hatten etwa zweihundert Häuser „befreit“, die offiziell dem Londoner Bezirk Camden gehörten und waren der Gemeindeverwaltung ein tiefer Dorn im Auge[1] und die Polizei wusste nicht so recht, wie sie mit uns umgehen sollte. Hausbesetzer sind auf der zweitniedrigsten Stufe der sozialen Leiter – nur über Junkies und Obdachlosen. Und unsere kleine Gemeinschaft umfasste auch diese, wie überhaupt das gesamte soziale Spektrum, von zwei Cousins der Queen über Lords und Ehrenwerte, bis hin zu Akademikern, Journalisten, Handwerkern, Prostituierten, Zuhältern, Architekten, Dealern und natürlich gab es viele Kinder. Unter den Bewohnern waren viele Marxisten, die alles was mit Religion zu tun hatte, als Fluch ansahen. In dieser Gemeinschaft entstand einer der ersten Biokornläden im Land, ein Verlag, andere alternative Firmen, sogar ein Fernsehsender – und ein Tempel. Er war in einem großen, baufälligen Gebäude untergebracht, das wir die Polytantric nannten und diente u. a. auch als Karate-Dojo. Eines Tages erzählte einer unserer Kommunarden, dass ein sehr wichtiger Lama in London sei und schlug vor ihn einzuladen. Wir waren einverstanden und ich riet ihm, hierzu Akong Rinpoche zu kontaktieren. Ein paar Stunden später kam er etwas durcheinander aber vollkommen beglückt zurück und teilte mir mit, dass Karmapa uns tatsächlich die Einladung angenommen habe. Auch käme er nicht alleine, sondern in Gefolgschaft von dreißig anderen. „Und das gleich heute abend!“, fügte er hinzu. „Er macht eine sogenannte Mahākāla-Pūjā, also lass uns die anderen informieren und alles ein wenig auf Vordermann bringen!“ Die Betriebsamkeit, die nun folgte, war unglaublich. Binnen einer Stunde war ein Flugblatt gestaltet und gedruckt und innerhalb einer weiteren lag es in jedem Briefkasten der Bewohnern von Kentish-Town und den besetzten Häusern der Umgebung. Eine Unmenge an Leuten kam, um zu helfen, die Poly aufzuräumen, sauberzumachen und zu schmücken. Niemand hatte sie gebeten und die Wenigsten von ihnen hatten etwas mit dem tibetischen Buddhismus zu tun; keiner spielte Chef und dennoch fügte sich ohne das geringste Durcheinander eines zum anderen. Als das Saubermachen vorbei war, kamen noch mehr Bewohner mit Bündeln an Seide, Thangkas, Decken, Kissen, kleinen Teppichen, Verzierungen, Objekten für den Altar, Kerzen, Räucherstäbchen, Kannen mit Tee und einer ganzen Reihe an Buddhastatuen. Wir fuhren weg, um Blumen zu sammeln. Natürlich gab es im Spätherbst kaum welche, aber mit den Worten: „Die Lebenden brauchen sie dringender als die Toten!“ gab uns der Wärter des benachbarten Friedhofs eine stattliche Zahl, eine Frau schnitt einige Zweige ihres geliebten winterblühenden Baums und alle Blumenläden in der Nachbarschaft schenkten uns etwas. Nur wenige Minuten vor Karmapas Ankunft kehrten wir mit einem Kleinbus voller Blumen zurück. Der Ort war wie verwandelt: Jeder Quadratzentimeter des Flurs und der Treppe, die zum Tempel führten, waren mit exotischen Stoffen geschmückt und man hatte Teppiche ausgelegt. Im Dojo selbst war die Bühne mit Decken und Kissen bedeckt und die Decke mit Seidentüchern abgehängt. Man hatte gleich zwei Altäre aufgebaut. Der Raum war von sanftem Kerzenlicht erhellt und vom Duft der Räucherstäbchen erfüllt. Es gab bereits Unmengen von Blumen und wir hatten Schwierigkeiten, Platz für die unsrigen zu finden. Kaum hatten wir sie platziert, kam Seine Heiligkeit der 16. Karmapa. Diejenigen, die wussten, wie unstabil die Treppe war, drückten die Daumen, sie möge seinem beachtlichen Gewicht standhalten. Aber er schwebte sie hinauf, schnaufte ein wenig und beamte uns alle mit seinem Lächeln in ein Glücksgefühl. Der Dojo war vollgepackt wie eine Sardinendose und die Leuten standen selbst im Flur und draußen auf der Straße. Wir mussten genug Platz lassen, da der Karate-Lehrer ein paar Vorführungen machen wollte. Doch erst rezitierten Karmapa und seine Mönche aus dem Himalaya vor einer Gruppe von Londoner Hausbesetzern, die an einem kleinen Wunder teilgenommen hatten, die Mahākāla–Pūjā. Karmapa blieb so lange, wie es sein Zeitplan erlaubte. Er unterhielt sich mit uns mit Hilfe seines Übersetzers und stellte tiefschürfende Fragen zu Karate. Nach seinem Besuch wurde alles wieder weggeräumt, die wertvollen Objekte fanden ihren Weg zurück zu ihren Besitzern und die Polytantric war – abgesehen davon, dass sie ein paar Tage lang etwas sauberer als üblich blieb – wieder wie zuvor. Etwa ein Jahr später wurden die Besetzer vertrieben und eine Abrissfirma rückte an. Als sie bereits einen großen Teil der Poly eingerissen hatten, unterbrachen sie ihre Arbeit. Sie hatten eine Wand des Dojo stehengelassen und so sah man für einige Monate den riesigen farbenfrohen Buddha, der auf ihr abgebildet war.
Avalokiteśvara im Friend‘s Meeting House Die dritte Schwarze-Kronen-Zeremonie an der ich teilnahm fand in London im Friend’s Meeting House statt. Es war ein riesiger Raum, der absolut vollgepackt war, es kamen sicherlich tausend Besucher. Ich bin seit jeher sehr empfindlich für Lichterscheinungen, wenn ich die Augen schließe sehe ich natürlicherweise viele Farben und es ist, als habe ich nie wirklich den Bardo verlassen. In dem Moment, als Karmapa sich die Schwarze Krone aufsetzte, verwandelte sich sein massiver, erdverbundener und enormer Menschenkörper vor meinen eigenen Augen in die Lichtform von Avalokiteśvara. Ich sagte mir: „Okay Mary, lass uns die Sache nüchtern betrachten, nur keine Aufregung“ und schloss die Augen. Nach etwa einer halben Minute öffnete ich sie wieder, und noch immer sah ich das gleiche. Er war Avalokiteśvara in seiner Saṃbhogakāya-Form, und der ganze Raum war in Licht in allen Regenbogenfarben getaucht. Wir saßen in der Galerie und so konnte ich gut sehen, wie die Leute unten vor ihm auf die Knie fielen. Manchen warfen sich sogar flach auf den Boden, sie waren vollkommen überwältigt. Genau in dem Augenblick, in dem er die Krone wieder abnahm und zurück in die Hutschachtel legte, nahm er wieder die Gestalt des 16. Karmapa an. Das Licht verblasste sanft.