Zur höchsten Erleuchtung
Den vorliegenden Text verfasste der 16. Gyalwa Karmapa auf Ersuchen von William Stucky für die erste Ausgabe der Zeitung Samata or the Blue Pearl. Er wurde von Gyalwa Karmapa 1974 kurz vor seiner ersten Reise in den Westen verfasst, [1]
Will man das Ziel der höchste Erleuchtung erreichen, ist die Praxis des Dharma der geeignetste Mittel dazu. Alle fühlenden Wesen ertrinken im Ozean des Leidens der Welt, äußerlich von Verlangen und Begierde sowie dem Hass und den üblen Absichten anderen gegenüber durchdrungen. Den nicht erwachten Zustand kann man durchaus mit der dunklen Nacht der Unwissenheit vergleichen. Das Herz der Dharma-Lehren des Buddha besteht – in wenigen Worten zusammengefasst – darin, uns von der Unwissenheit zu befreien und die Geistesgifte von Körper, Rede und Geist zu reinigen/ und Körper, Rede und Geist die Geistesgifte zu reinigen.
Nichts anderes ist die Bedeutung des einfachen und gleichzeitig so tiefgründigen Wortes Dharma. Es bedarf allerdings einer gewissen geistigen und körperlichen Anstrengung, um den Dharma besser verstehen. Ihr seid bereit, endlose Mühen auf euch zu nehmen, um zum Beispiel die kompliziertesten technischen Apparate zu bauen oder eine bessere Stellung und mehr Einfluss zu erlangen.
Mit dem Dharma arbeitet man folgendermaßen: Es reicht nicht aus, die Lehren Buddhas unterrichtet zu bekommen oder in Büchern nachzulesen. Es bedarf der Meditation, mit der wir in den eigenen Geist schauen oder ihn analysieren. So gelangen wir zu einer gewissen spirituellen Reife. Um tiefer in den Dharma einzutauchen, müssen wir mündliche Unterweisungen des Lamas erhalten. Seine Lehren sind von den Lehren aller Erwachten nicht verschieden.
Die tiefgründigeren Anuttara-Lehren des Vajrayāna nennen drei Dinge, die der Schüler oder die Schülerin ausführen sollten: Kraftvolles Streben, geduldiges Hören der Worte des Meisters (was besonders beinhaltet, seine geheimen Anweisungen genau zu beachten) und drittens die stille Meditation des Schauens in den eigenen Geist [Einsichtsmeditatiom, Lhaktong]. Die Kombination dieser drei bringt uns zu Mahāsukha, zur unbeschreiblichen großen Freude eines Buddha.
Mit Körper, Rede und Geist
Mittel der vorbereitenden Übungen* arbeiten wir mit Körper, Rede und Geist:
- Um die unheilsamen Handlungen und Unreinheiten des Körpers zu reinigen, machen wir die yogische Praxis der Niederwerfungen
- Um die unheilsamen Handlungen und Unreinheiten der Rede zu reinigen, nehmen wir Zuflucht zu den Drei Juwelen und rezitieren das Mantra von Vajrasattva.*
- Um die unheilsamen Handlungen und Unreinheiten des Geists zu reinigen, also die Tendenzen aus zahllosen Leben und endlosen Kalpas*, rezitieren wir Mantras und verbeugen uns vor den Buddhas und bedauern von ganzem Herzen all das Leiden, das wir – bewusst oder unbewusst – anderen zugefügt haben. Diese Anstrengungen sind wie Stufen, die uns die Leiter zu den höheren Praktiken hinaufführen.
Eine zarte Rüstung
Um allen fühlenden Wesen helfen zu können, ihr scheinbar unvermeidbares Leid zu überwinden, legen wir die zarte Rüstung des Mitgefühls an – und zwar nicht nur für die Menschen, sondern für alle Lebewesen, die sichtbaren ebenso wie für die unsichtbaren. Wir praktizieren und verwirklichen die zehn befreienden Handlungen (Pāramitās*) und machen dies – den Weg aller Buddhas und Bodhisattvas – zur Grundlage unseres Lebens: Freigebigkeit, ethisches Verhalten, Geduld, freudige Ausdauer, Meditation und Weisheit. Mit Letzterer überprüfen wir, ob bei den übrigen die Richtung stimmt. Darüber hinaus gibt es die Pāramitās der geschickten Mittel, die Kraft (Bala), die Kunst des vollkommenen Gebets und transzendierende Weisheit/zeitloses Gewahrsein.[2]
Nur das grenzenlose Mitgefühl und ein entsprechend gütiges Herz unseres Lamas kann uns offenbaren, dass der tiefe Same der Erleuchtung bereits in uns wohnt – Bodhicitta. Es ist nichts, was wir außerhalb von uns suchen müssten.
Von unserem Meister nehmen wir das Bodhisattva-Versprechen und beginnen die drei Ebenen der Praxis eines Bodhisattva zu verstehen. Starkes Mitgefühl für alles, was lebt, ist die Herzenspraxis aller Buddhas und Bodhisattvas, die das Leid der Welt auf sich nehmen und im Gegenzug all ihre grenzenlose Freude mit allen von ihnen teilen, ohne ein einziges Lebewesen auszuschließen.
Die tiefere Bedeutung
Die andere und tiefere Bedeutung von Bodhicitta ist das unbeschreibliche klare/strahlende Licht des Geistes, die Verwirklichung der Buddhas, die Erleuchtung jenseits aller menschlichen Worte, in dem sie zu Hause sind, indem man die geschickten Mittel* (Upāya) des Pfades praktiziert. Der wahre Sinn kann nicht in Worte gefasst werden, sondern nur kraft ebendieser geschickten Mittel verstanden werden.
Sei Dir bewusst, wie Du wirklich bist.
Stelle Dir ein weißes Om vor, das an Deiner Stirn leuchtet,
ein rotes Ah, das an der Basis des Halses strahlt und
ein blaues Hung im Zentrum Deines Körpers unter dem Herzen.
Dies ist die Essenz der Meditation.
Visualisation des unzerstörbaren Körpers, der Rede und des Geists
Wenn diese Meditation stabil geworden ist, visualisiere im weiten Raum vor Dir einen tausendblättrigen Lotus, darauf eine Mondscheibe, die von einer Sonnenscheibe bedeckt ist. Auf dieser sitzt den Lama-Guru,[3] der große Vajradhāra, der große Vajrahalter oder unbezwingbare unzerstörbare Siegreiche. In gleicher Weise wie zuvor stelle Dir auch an der Lichtfigur vor Dir an den drei heiligen Pforten ein weißes Om, ein rotes Ah und ein blaues Hung vor.
Die Silbe Om steht für den Vajra-Körper,
die Silbe Ah steht für die Vajra-Rede und
die Silbe Hung steht für den Vajra-Geist.
Während du zu ihm schaust, strömt unsere Hingabe als Schüler in Wellen der Liebe zu ihm. Wie ein Echo kommen Lichtstrahlen von seiner Stirn zurück und fließen in das Om auf unserer Stirn. Dies ist die Ermächtigung oder Einweihung auf den höheren Vajra-Körper. Hierdurch werden alle Erscheinungen und die Leerheit, Śūnyatā, das Herz aller Dinge, untrennbar und verschmelzen im Geist.
Als nächstes strahlt von dem Ah an der Kehle des Lama-Guru rotes Licht zu dem Ah an meinem Hals und verschmilzt in es. Dadurch erhalten wir die höhere Ermächtigung der Rede.
Alle Klänge und die Leerheit, die Essenz aller Klänge, verschmelzen untrennbar. Klang und Nirvana sind nicht mehr zwei. Alle Klänge erscheinen uns fortan als Mantra.
Schließlich fließt vom Herzen des Lama-Guru, des Vajra-Halters, grenzenloses blaues Licht und dringt wie der Rauch eines Räucherstäbchens in das Hung in unserem Herzen ein und wird von ihm absorbiert. Unser Geist erhält also vom blauen strahlenden Hung im Geist des Lama die höhere Ermächtigung des Vajra-Geistes.
Alle Gedanken und die Leerheit, die Essenz der Gedanken, verschmelzen zu einem. Geist ist die Nichtzweiheit, das Nicht-Duale, also das, was jenseits der Gedanken liegt. Geist ist das spontan gleichzeitig Entstehende (Tib.: Lhen Kyes), Strahlkraft-Leerheit.[3]
Der Geist wandert nicht mehr. Kommen und Gehen, das Entstehen und Vergehen äußerer Dinge und Gedanken kommt zum Erliegen. Alles ist ruhig.
Wie beschreiben, was nicht in Worte zu fassen ist? Können wir sagen: Es ist so oder anders? Dinge sind oder sie sind nicht. Sie sind eine „nicht-Realität“, Leerheit, Abwesenheit einer Realität dessen, was eigentlich ist. Wie der Himmel, der alles umfasst. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht verschieden, jenseits aller Gedanken. Wie kann man etwas beschreiben, dessen Essenz dem weiten Raum gleicht?
Sein oder Nichtsein.
Es ist weder wie dies noch irgendetwas anderes
Und noch nicht einmal transzendent.
Leerheit und die Natur der Phänomene sind nicht verschieden.
Jenseits aller Zeichen und Merkmale.
Jenseits der Kommunikation.
Anders.
Namenlos.
Plötzlich wie der Blitz.
Mit einer Bedeutung jenseits des Denkens.
Daher gibt es keine Bedeutung.
Das ist alles.
Worte sind Lügner.
[1] Baba Muktananda empfahl William Stucky ausdrücklich, den 16. Karmapa für die Nullnummer der Zeitung um einen Text zu ersuchen.
[2] In verschiedenen Schulen unterscheidet man zwischen sechs oder zehn Pāramitās.
[3] Dies ist ein synonym für die Qualitäten der Erleuchtung wie sie die Shengtong Madyamaka Schule vertritt.