Steve Roth lernte Chögyam Trungpa Rinpoche 1967 in London kennen und wurde sein Schüler. Während Karmapas drei US Besuchen war er in verschiedenen Städten sein Fahrer. Er lebt in Boulder/Colorado.[1]
Ein Vorgeschmack von Avalokiteśvara Während Karmapas US-Besuch im Jahr 1980 kam er auch nach Santa Fe/New Mexiko, wo er eine Schwarze-Kronen-Zeremonie zelebrierte. Mit drei Dharma-Freundinnen und -freunden, darunter Pema Chödrön, fuhr ich die lange Strecke von Boulder nach Santa Fe. Als wir in dem großen Amphitheater ankamen, war die Zeremonie bereits in vollem Gange. In dem Augenblick, in dem ich in den großen Saal kam, sah ich nicht Seine Heiligkeit den 16. Karmapa, sondern einen leuchtend strahlenden Avalokiteśvara, eine weiße Lichtgestalt mit vielen Armen, die sich flink in alle Richtungen bewegten und den Anwesenden gleichzeitig starken und grenzenlosen Segen gab – eine Erfahrung, die man schwerlich in Worte fassen kann. Es war gänzlich überwältigend und atemberaubend, diese mitfühlende Aktivität, die aus einem außerweltlichen Bereich zu kommen schien, hier im Menschenbereich zu bezeugen. Avalokiteśvaras transparenter durchsichtiger Körper hatte alle Ornamente, die Krone und den Juwelenschmucks, und trug ein regenbogenfarbenes Tuch. Ich sah ihn in genau der Saṃbhogakāya-Form, die auch auf den Thangkas dargestellt ist. Schließlich blinzelte ich, und anschließend sah ich Karmapa wieder in seiner üblichen Form. Er sass wie auch sonst auf seinem Thron und segnete die Leute, einen nach dem andern. Dieses Erlebnis ließ sowohl meinen Respekt vor der nicht zu ergründenden Kraft der Thangkas als auch meine Hingabe zu Karmapa enorm erstarken.
In Zion mit einem Angola-Schmetterlingsfink
Steve Roth: Yishin Norbu, Warum mögen Sie Vögel? Seine Heiligkeit: Versuchen Sie einfach, ihre Freude zu spüren! Dialog während Karmapas Besuch in den USA 1977.
Seine Heiligkeit hatte ein englisches Vokabular von nicht mehr als fünfzig Wörtern, wobei die meisten von ihnen Vögel und andere Tiere bezeichneten. Wann immer er diese Worte mit der ihm eigenen offenen herzlichen Güte aussprach, konnte man nicht anders, als unverzüglich dahinzuschmelzen. Alle Selbstbezogenheit löste sich in seiner Gegenwart der Begeisterung, Gelassenheit und Verspieltheit einfach auf. Die Vögel, von denen Karmapa am meisten sprach, waren seine Lieblingsfinken Gloster, Norwich, Tanager, Yorkshire, Blaukopfschmetterlingsfink, der Rotfaktorige Kanarienvogel oder die Gouldamadine. Er sprach „Finch“ (Finke) als Pitch aus, da Tibeter kein „f“ kennen. Andere Sätze und Wörter, die Karmapa häufig benutzte, waren „bery good“, „buddhapool“ (wörtlich Buddhas Pool) was „beautiful“ bedeutete, oder „hello“ und good-bye“ – wobei er die Worte in spielerischer und manchmal etwas provokative Weise benutzte, mit der er nachahmte, wie wir Westler diese Worte manchmal etwas gedankenlos dahersagen, unterbrochen von der nicht versiegen wollenden Quelle seines freudvoll sonnigen Lachens. Er war bedingungslos fröhlich und vergnügt und sorgte sich um alle. In einigen Städten bat er mich, mich in sein Zimmer zu setzen, und Vogelzüchter anzurufen. Regelmäßig kam er hinein, um zu sehen, was ich bezüglich der Vögel herausgefunden hatte. Ich verbrachte nicht nur viele Stunden am Telefon, sondern recherchierte auch in Büchereien, durchkämmte die Gelben Seiten sowie die Zeitungen von Kanarienvereinen, Vogelliebhabern und -züchtern. So war das in der Mitte der Siebzigerjahre – heute wäre all dies eine dreiminütige Suche im Internet. Jetzt sitze ich da, innerlich lächelnd und dankbar, dass es damals noch keine Computer gab, denn so konnte ich viel Zeit in Karmapas Nähe verbringen. Seine Heiligkeit sprach von Zeit zu Zeit von einer bestimmten seltenen Vogel Art, dem Angola-Schmetterlingsfink, einem seltenen Hybrid der ohnehin schon ausgesprochen seltenen Gouldamadine. Ich kontaktierte viele Vogelzüchter, doch keiner von ihnen hatte je ein Exemplar zu Augen bekommen – bestenfalls hatten sie von ihm gehört. Im Jahr 1981 erfuhr ich, dass sich Karmapas Herzensschüler dafür eingesetzt hatten, dass er in den USA medizinisch behandelt würde. Ein Aufenthalt, der leider zu seinen letzten Tagen wurde. Ich hatte das Glück, dorthin eingeladen zu werden. Den Vogel zu finden war für mich regelrecht zu einer Raison d’Etre geworden. Nach einiger Recherche in Bibliotheken fand ich heraus, dass es einen Züchter in South Carolina gab, der sich auf diese Art spezialisiert hatte. Wir sorgten sofort dafür, dass ein Exemplar zu dem Denver Airport geflogen wurde. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Karmapa selbst war, der das ermöglicht hat. Trungpas damaliger Vajraregent Ösel Tenzin, sein Sekretär und ich brachten das Tier schließlich zu Karmapa ins Krankenhaus in Zion. Sein Diener stellte den Käfig auf den Tisch, sodass er den Prachtfinken stets sehen konnte. Auch wenn Karmapa nur noch um die vierzig Kilo wog, waren seine Augen strahlend und durchdringend wie immer. Nach wenigen Minuten begann der Regent zu weinen, worauf hin Seine Heiligkeit ihn bat, für einen Segen zu ihm zu kommen. Er sagte: „nichts passiert.“[2] Der Regent trat zurück und es war nun an mir, mich ihm zu nähern. Er hob seine Hand streichelte meinen Kopf und gab eine letzte persönliche Belehrung. Das war alles. Karmapa vollzog einige Tage darauf sein Parinirvāṇa.
[1] Steve Roth schrieb diesen Bericht für Strahlendes Mitgefühl. Engl Titel: Lord of Compassion.
[2] Im Film Lions Roar erklärt der damalige Vajra-Regent Ösel Tenzin, dass Karmapa ihm damit mitteilte, dass Geburt und Tod letztendlich eine Illusion sind.